Von Hannah Göppert
Abstract
Eine der
wichtigsten Aufgaben, vor der Schulen in Deutschland momentan stehen, ist die
Integration von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen nichtdeutscher Herkunftssprache
in ihren Unterricht. Um Kindern schnell Deutschkenntnisse zu vermitteln und
gleiche Bildungschancen zu ermöglichen, hat das Land Berlin nach
Sprachkenntnissen getrennte Lerngruppen – sogenannte Willkommensklassen – eingeführt.
Trotz ihres vielversprechenden Namens ist es wichtig, kritisch zu prüfen,
inwiefern die Einrichtung ihren Zielen gerecht wird und wo Hindernisse
bestehen. Dieser Artikel leistet einen Beitrag zur Reflexion der praktischen
Gestaltung der sogenannten Willkommensklassen sowie der ihnen zugrunde
liegenden pädagogischen und bildungspolitischen Konzepte. Im Rückgriff auf eine
explorative Untersuchung an Neuköllner Grundschulen zeigt sich, dass die
Willkommensklassen in ihrer aktuellen Gestaltung sowohl die Bildungschancen als
auch die soziale Integration der zugewanderten Kinder beeinträchtigen. Vielmehr
scheint die ethno-linguistische Segregation das Erlernen der deutschen Sprache
zu erschweren und eine defizitorientierte Perspektive auf die Schüler_innen zu
verstärken. Der Artikel analysiert die Willkommensklassen auch im Kontext des
deutschen Bildungssystems, das auf Selektion und homogene Lerngruppen
ausgerichtet ist. Ihre Mängel weisen somit auf notwendigen institutionellen
Wandel von Schulen hin. Konzepte aus der interkulturellen Pädagogik geben Impulse
für eine stärkere Anerkennung von Mehrsprachigkeit und multikulturellen
Identitäten, die Diskriminierungen abbauen und zum Bildungserfolg von neu
zugewanderten Kindern beitragen könnten.
One of the most important challenges German schools are
currently facing is the integration of young refugees and immigrants without
command of the German language. In order to create equal opportunities and to
help children acquiring the language quickly, the federal state Berlin has
created separated classes for German learners, called Welcome Classes. Despite their
promising name it is necessary to critically assess the existing obstacles that
limit meeting the institution’s goals. This article reflects on the practical
organization of the Welcome Classes, as well as their underlying pedagogical
concepts and educational policies. Drawing on an explorative study carried out at
primary schools in the district Neukölln, I suggest that in their current
design the Welcome Classes are harmful both for children’s educational
opportunities and social integration. Their ethno-linguistic segregation rather
seems to make language learning more difficult and to increase a
deficit-perspective onto the students. The article also analyzes the Welcome
Classes in the context of the German educational system’s structural principles
of selectivity and homogeneity. Their flaws therefore point to the need for
institutional change in German schools. Intercultural pedagogy gives impulses
for more appreciation of multilingualism and multicultural identities in
education. They can dismantle discrimination and contribute to the immigrated
children’s educational success.
Seit Sommer
2015 dominiert die sogenannte „Flüchtlingsdebatte“ die Medienberichterstattung
und den politischen Diskurs in Deutschland. Fragen zur langfristigen Gestaltung
von Integration werden dabei häufig damit gekontert, dass Geflüchtete zunächst
eine Bringschuld hätten, sich an die in Deutschland geltenden Regeln und Normen
anzupassen.1 Migrationsforscher_innen kritisieren ein derartiges
Verständnis von Integration nicht nur, weil es eine einseitige Assimilation
vorsieht, sondern auch weil es die Komplexität und Vielfalt der Identitäten, Lebensweisen
und Einstellungen in einem seit langem von Einwanderung geprägten Land
ignoriert (Radtke 2013, Foroutan 2015).2 Abseits von politischer
Polemik verstehen viele Menschen mit und ohne „Migrationshintergrund“3
Integration vielmehr als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Dies erkennt auch das
jüngst vereinbarte Integrationsgesetz prinzipiell an, das andererseits jedoch
Sanktionen vorsieht, wenn Geflüchtete gewissen Integrationsauflagen nicht
nachkommen (Greven 2016). Integrationspolitik hat in den nächsten Jahren das
wichtige Ziel, Chancen zur gleichberechtigten sozialen, politischen und
ökonomischen Teilhabe von Geflüchteten und anderen Neuankommenden in der
deutschen Gesellschaft herzustellen. Eine wichtige Rolle dabei spielen
Institutionen, allen voran die Schule.
Viele der
Menschen, die aktuell nach Deutschland kommen, um Asyl zu beantragen, sind
minderjährig. Unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus haben sie nicht nur das
Recht eine Schule zu besuchen, sondern sind wie alle anderen jungen Menschen
zwischen dem sechsten Lebensjahr und gewöhnlich der Vollendung des 10.
Schuljahres schulpflichtig (Weiser 2013). Die Kultusministerkonferenz schätzte
im Oktober 2015, dass in den kommenden zwölf Monaten mit der Aufnahme von
bundesweit etwa 325.000 Schüler_innen zu rechnen sei (vgl. Bayrischer Rundfunk
2015). Die einzelnen Bundesländer nutzen unterschiedliche Modelle zur
Unterrichtung von Geflüchteten sowie zur Vermittlung von Deutsch als
Zweitsprache. Grundsätzlich zu unterscheiden ist die direkte Aufnahme in den
Regelunterricht vom Modell der Vorbereitungs- oder Übergangsklassen, die in
Berlin den Namen „Willkommensklassen“ tragen (Massumi et al. 2015). Die mediale
Rezeption dieser Klassen ist aktuell in der Regel positiv, beispielsweise wird
die Einstellung zahlreicher zusätzlicher Lehrkräfte als angemessene und
schnelle Reaktion auf die vielen Neuzugänge an den Berliner Schulen bewertet (vgl.
Warnecke 2016). Dennoch ist es notwendig
genauer zu fragen, was hinter dem vielversprechenden Namen steckt.
Mit diesem Artikel identifiziere und
diskutiere ich mehrere Probleme am Berliner Instrument zur schulischen
Integration von Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache. Dabei adressiere ich
verschiedene Ebenen. Zunächst thematisiere ich konkrete Herausforderungen, die
Pädagog_innen in der Praxis wahrnehmen. Daraufhin betrachte ich das den Willkommensklassen
zugrundeliegende pädagogische Konzept und argumentiere, dass der getrennte
Unterricht das Deutschlernen erschweren sowie zur Betonung von Differenzen und zur
Reproduktion rassistischer Stereotype beitragen kann. Schließlich weise ich auf
Zusammenhänge zu allgemeinen Gestaltungsprinzipien des deutschen Schulsystems
und bildungspolitischen Paradigmen hin. Um Ansatzpunkte für Veränderungen aufzuzeigen,
skizziere ich im letzten Teil im Rückgriff auf Konzepte aus der
interkulturellen Pädagogik einige Empfehlungen, wie Spracherwerb und soziale
Teilhabe besser gefördert werden könnten. Mein Beitrag soll damit auch auf die
Notwendigkeit der kontinuierlichen Reflexion und daran anknüpfenden
Weiterentwicklung von Modellen der schulischen Integration geflüchteter
Schüler_innen hinweisen und zu einer umfassenderen Diskussion über notwendigen
Wandel der Institution Schule in der Einwanderungsgesellschaft beitragen.
Meine Argumente
beziehen sich in erster Linie auf die Ergebnisse einer qualitativen Befragung von Expert_innen und Schulpersonal zu ihren Erfahrungen mit
den Berliner Willkommensklassen, die
ich im Frühjahr 2014 durchgeführt habe.4 Die Untersuchung war
als explorative Studie angelegt, die bestehende Probleme identifiziert und
aufzeigt, an welchen Stellen es weiterer Erklärung oder einer Überarbeitung der
politischen Richtlinien bedarf. Ich
konzentrierte mich auf Grundschulen, da die nach Sprachkenntnissen separierte
Unterrichtung insbesondere bei jüngeren Kindern problematisch erscheint,
während sie im Sekundarschulalter und bei fortgeschrittenen fachlichem Niveau
besser begründbar ist (Dörnyei 2009).
Räumlich war die Erhebung auf Grundschulen im Bezirk Neukölln beschränkt, da es
dort zum Untersuchungszeitpunkt eine besonders hohe Zahl an Willkommensklassen
gab. Obwohl die Mehrheit der Kinder in den
untersuchten Neuköllner Willkommensklassen aus EU-Mitgliedsstaaten zugewandert
waren, weshalb sich ihre Situation in einigen Punkten, wie zum Beispiel ihrem
rechtlichen Aufenthaltsstatus, von der geflüchteter Kinder unterscheidet, haben
die grundsätzlichen Herausforderungen und Kritikpunkte an den
Willkommensklassen unabhängig davon Relevanz. Denn nach wie vor handelt es sich
bei den Kindern um sehr heterogene Gruppen, deren primäre interne Gemeinsamkeit
die geringen Deutschkenntnisse sind. Die
qualitativen Daten werden ergänzt und im derzeitigen Kontext verortet durch
aktuelle Zahlen zu den Willkommensklassen, eine Analyse der jüngsten Version
des ihnen zugrunde liegenden Konzeptes, sowie Informationen, die
Medienberichten und den Anfragen von Mitgliedern des Abgeordnetenhauses an den
Berliner Senat zu entnehmen sind.
Das Berliner Konzept der Willkommensklassen
Die
Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (im Folgenden
Sen. BJW genannt) beschreibt Willkommensklassen als Lerngruppen, in denen
Kinder und Jugendliche unterrichtet werden, “die in einer Regelklasse wegen
fehlender Deutschkenntnisse nicht ausreichend gefördert werden können” (Sen. BJW
2015). Sie wurden zum Schuljahr 2011/12 eingerichtet, rechtliche Grundlage dafür
bildete eine Ergänzung von §15 des Berliner Schulgesetzes, der den Unterricht
für Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache regelt (Sen. BJW 2010,
22; SchulG §15 Art. 2). Mit den gestiegenen Zahlen von Geflüchteten in Berlin hat
auch die Zahl der Willkommensklassen stark zugenommen. Im April 2016 lernten
10.051 Kinder und Jugendliche in 855 Willkommensklassen (Reinwarth 2016). Fast
200 davon wurden allein zum aktuellen Schulhalbjahr eingerichtet.5
Ziel der
nach Sprachkenntnissen separierten Klassen sei es, den “intensiven und
systematischen Erwerb der deutschen Sprache als Unterrichtssprache” und somit
den “frühstmöglichen Wechsel in eine Regelklasse” zu ermöglichen (Sen. BJW 2015).
Mit der Einrichtung der Willkommensklassen veröffentlichte die Senatsverwaltung
auch einen „Leitfaden zur schulischen Integration von neu zugewanderten Kindern
und Jugendlichen“, der im November 2015 erweitert und aktualisiert wurde. Eine
„Lerngruppe für Neuzugänge ohne Deutschkenntnisse“ wird demnach jeweils für ein
Schuljahr eingerichtet, gesondert von sonstigen Mitteln der Sprachförderung
finanziert und hat eine Zumessungsfrequenz von 12 Schüler_innen. Bei der
Schulanmeldung eines Kindes „nichtdeutscher Herkunftssprache“ entscheidet die
regionale Schulaufsicht anhand von Sprachstand und Alter, ob es am Unterricht
in der Regelklasse teilnimmt oder einer Willkommensklasse zugewiesen wird (ebd.,
9). Normalerweise werden Schüler_innen ab 8 Jahren in Willkommensklassen
unterrichtet, entweder an einer wohnortnahen Grundschule, oder wenn sie bereits
älter sind an einer weiterführenden allgemeinbildenden Schule oder einem
Oberstufenzentrum (ebd., 14). Die Zuweisung zu einer Willkommensklasse wird als
temporär verstanden, weshalb sie bei ihrer Einrichtung auch mit einem
„Durchlauferhitzer“ (Sen. BJW 2011, 4) verglichen wurden. Prinzipiell sollen Schüler_innen
jederzeit in Regelklassen übergehen können, insofern ihre deutschen Sprachkompetenzen als ausreichend eingeschätzt
werden. Daher sind die Lehrkräfte der Willkommensklassen aufgefordert, einen
individuellen Förderplan und eine Dokumentation der Sprachstandsentwicklung jeder Schülerin und jedes Schülers
zu erstellen (Sen. BJW 2015, 15). Laut der im Leitfaden getroffenen Empfehlungen sollten Schüler_innen
für gewöhnlich sechs Monate, und nur in besonderen Fällen über ein Jahr in den Willkommensklassen
bleiben.
Diskrepanzen zwischen Unterrichtskonzept und Praxis
Die
beschriebenen Regelungen sollen Schulen entlasten, indem ihnen ein
einheitliches Konzept zum Umgang mit neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen
an die Hand gereicht wird. Zudem lassen sie die Absicht erkennen, den Kindern
eine intensive Betreuung mit besonderem Fokus auf der Vermittlung von
Deutschkenntnissen zu ermöglichen, damit sie im Anschluss mit besseren
Voraussetzungen am Regelunterricht teilnehmen können. Doch aus den Erfahrungen
des Schulpersonals ging hervor, dass zwischen den vom Senat getroffenen
Vorgaben und der praktischen Gestaltung der Willkommensklassen an den
untersuchten Schulen nur eine geringe Kohärenz besteht. Darüber hinaus beließen
die Vorgaben verschiedene Aspekte weitestgehend unreglementiert. Deshalb
konnten sich teils problematische Praktiken etablieren, beispielsweise waren
die Willkommensklassen an manchen Schulen sowohl durch unterschiedliche
Pausenzeiten als auch durch die Lage des Klassenzimmers vom restlichen
Schulbetrieb isoliert.
In Reaktion
auf Kritik von Eltern und Praktiker_innen an derartigen Zuständen wurde der
Leitfaden des Senates inzwischen deutlich überarbeitet. So weist die neueste
Version darauf hin, dass Willkommens- und
Regelklassen innerhalb einer Schule die gleichen Unterrichts- und Pausenzeiten
haben sollten (Sen. BJW 2015, 11). Dennoch ist auch die aktuellste Version des Leitfadens
nicht frei von Schwierigkeiten und Lücken. Die Kritik meiner
Interviewpartner_innen, dass er für etliche Situationen keine Lösung bietet,
kann weiterhin geltend gemacht werden. So gibt es beispielsweise wenig Auskunft
zur Frage, wie der Übergang in den Regelunterricht gestaltet werden kann. Da
die Teilnahme an einer Willkommensklasse Schüler_innen nicht das Recht gibt, im
Anschluss an der gleichen Schule oder Schulform zu bleiben (ebd.), ist zu
erwarten, dass viele Kinder nach ihrer Eingewöhnung in einer Willkommensklasse
erneut die Schule und ihr soziales Umfeld wechseln müssen. Interviewpartner_innen
bemängelten zudem, dass es kaum einen Rahmen oder klar ersichtliche Regeln
gibt, die Unterrichtsinhalte, Lehrmethoden oder Zieldefinitionen festlegen: "Es [gibt] eigentlich gar kein Konzept,
wie man so eine Klasse am besten unterrichtet" (Interview Carina S. vom 28.2.2014). In der Tat gibt es keine Hinweise,
wie der Unterricht in den Willkommensklassen konkret gestaltet werden sollte,
beispielweise inwiefern neben Sprach- auch Sachkenntnisse vermittelt werden
sollten. Stattdessen wird Schulen die Verantwortung übertragen, „geeignete Maßnahmen festzulegen“ für das
erfolgreiche Deutschlernen der Schüler_innen „im Rahmen ihres schuleigenen Sprachbildungskonzepts“ (Sen. BJW
2015, 11). Neben einem pädagogischen Konzept fehlt es auch an Hinweisen zur
sonstigen Begleitung oder Betreuung der Kinder, von denen viele aufgrund ihrer
Fluchtbiografien traumatisiert sind (Kalarickal 2015; Interview Jette O. vom
19.2.2014).
An anderen
Stellen wurde der Leitfaden als wenig praktikabel beurteilt, weil die
Anforderungen schwer erfüllbar seien. So verlängerte sich die Dauer bis zum
Übergang in Regelklassen im Vergleich zu den Vorgaben häufig. Außerdem zeigten
die Befragungen und Hospitanzen an Neuköllner Schulen, dass jede Schule ihre
eigenen Strategien entwickelt, da ihnen die Kapazitäten fehlten, wie vorgesehen
den Lernfortschritt jedes einzelnen Kindes zu dokumentieren. Aufgrund dieser
Mängel arbeiteten manche Lehrkräfte jedoch an der Dokumentation ihrer
Erfahrungen und Lehrmaterialien, mit der Absicht diese an andere weiter reichen
zu können.
Die alltäglichen
Herausforderungen an Berliner Schulen sind oft komplizierter als im Konzept
erfasst, schon allein da die genauen Zahlen der Neuanmeldungen von geflüchteten
Kindern und infolge dessen die Verfügbarkeit von Mitteln von Schulen schwer zu
antizipieren sind. Um die schulische Integration geflüchteter Kinder praktisch
und nachhaltig zu verbessern, ist es wichtig, diese Diskrepanzen zu benennen
und die Ursachen der Probleme, die der Unterrichtspraxis in den
Willkommensklassen zugrunde liegen, zu analysieren. Neben den pädagogischen
Leitlinien und ihrer Umsetzung, haben die in den Willkommensklassen
unterrichtenden Lehrkräfte selbst eine wichtige Rolle inne. Ihre Situation soll
daher genauer betrachtet werden.
Einstellungskriterien und Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte
"Aber, ich kann auch nicht gleichzeitig
Familienhelfer, Schulhelfer, sonst was sein.“6
Die Zahl
der in Willkommensklassen tätigen Lehrer_innen hat sich seit dem vergangenen Schuljahr
von ca. 470 auf über 800 erhöht (news4teachers 2016b). Die Anstellung
zahlreicher zusätzlicher Pädagog_innen erscheint als angemessene
Reaktion auf die gestiegenen Schüler_innenzahlen. Doch darüber hinaus ist es
zur Beurteilung der Erfolge und Probleme der Willkommensklassen relevant, wie die Auswahlverfahren, Qualifikationen
und Arbeitsbedingungen von Lehrkräften, die in den Willkommensklassen
unterrichten, aussehen. Aus den Antworten auf mehrere Anfragen an den Senat von
Seiten der Grünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus geht hervor, dass sich
bei Neueinstellungen in der Regel die Schulen selbst für eine_n Bewerber_in
entscheiden. Dabei gelten entweder ein Lehramtsstudium oder alternativ ein
Studium oder Erfahrungen im Bereich Deutsch als Zweitsprache als
Einstellungskriterium. Auch bereits an einer Schule beschäftigte Lehrer_innen
können bei nicht weiter definierter „entsprechender Qualifikation“ (Berliner Abgeordnetenhaus
2015a) in Willkommensklassen unterrichten. Darüber hinaus blieben die Angaben
relativ vage, so gibt es beispielsweise keine Information darüber, wie viele
Personen mit „Migrationshintergrund“ oder eigener Fluchterfahrung, die unter
Umständen eine besondere Vorbildfunktion einnehmen oder stärkere Sensibilität
für Benachteiligungen von zugewanderten Kindern haben können, eingestellt
wurden (Berliner Abgeordnetenhaus 2015b).
Die
vorliegenden Informationen decken sich in mehrerlei Hinsicht mit dem Bild, das
sich in meiner Untersuchung an Neuköllner Grundschulen zeigte. Obwohl das
Hauptziel der Willkommensklassen die Vermittlung von Deutschkenntnissen sein
soll, verfügte nur eine der interviewten Personen über eine Ausbildung in
Deutsch als Fremdsprache, alle anderen Lehrkräfte haben sich dies
autodidaktisch angeeignet. Des Weiteren wurden Lehrer_innen häufig in Positionen
eingesetzt, die nicht ihrer Qualifikation entsprechen, zum Beispiel
unterrichteten sie in der Schulanfangsphase trotz Ausbildung für die
Sekundarstufe II. Die mangelnde formelle Qualifikation bedeutet nicht
notwendigerweise, dass die Lehrkraft ungeeignet ist, stellt sie aber vor
besonders hohe Herausforderungen. Hinzu kommt, dass die Lehrer_innen der
Willkommensklassen häufig unter prekären Bedingungen angestellt waren. Drei von
vier interviewten Lehrkräften arbeiteten mit einem auf ein Jahr begrenzten
Vertrag. Selbst wenn dieser verlängert wird, kann die Bezahlung der
Sommerferien durch die Befristung entfallen. Wie aus den Anfragen der Grünen
hervor geht, hat sich auch diese Praxis noch nicht geändert (Berliner
Abgeordnetenhaus 2015c). Die Lehrkräfte bemängelten auch, dass ihr Honorar
deutlich unter dem der fest angestellten Kolleg_innen liege.
Da sie
zudem nur mit einer geringen Stundenzahl beschäftigt waren, waren sie wenig
motiviert, Fortbildungsangebote wahrzunehmen:
„Gibt ja immer sowas wie Deutschkonferenzen, aber [...] bei 'ner
Drittelstelle werd’ ich mir jetzt nicht noch Konferenzen reinziehen." (Interview
Nils S. vom 13.2.2014)
Die
Senatsverwaltung für Bildung,
Jugend und Wissenschaft macht Schulen zwar Beratungsangebote und bietet
Fortbildungen an, in denen Sprachbildungskoordinatoren ausgebildet
werden. Es ist jedoch fraglich, ob diese Angebote von Lehrkräften, die in
Willkommensklassen unterrichten, angenommen werden. Die verfügbaren Zahlen zu
den teilnehmenden Schulen und Personen sind nicht differenziert genug um dies
zu beurteilen (Sen. BJW 2014).
Aufgrund
der schwierigen Arbeitsbedingungen und der fehlenden Erfahrungswerte,
etablierter Materialien oder Methoden, fühlte sich die Mehrzahl der Lehrkräfte
allein gelassen und überfordert, den Bedürfnissen der Schüler_innen gerecht zu
werden. Zudem äußerten manche Lehrkräfte Ängste, die sie vor Übernahme einer
Willkommensklasse wegen der Sprachbarriere und des defizitgeprägten Bildes, das
diesen voraus eilt, hatten. Aus diesen Gründen verglich einer der interviewten
Experten das Unterrichten in einer Willkommensklasse mit einer „Strafe“
(Interview Gabriel I. vom
17.1.2014). Eine andere Expertin war sich mit ihm darin einig, dass es den in den
Klassen eingesetzten Pädagog_innen nicht nur an Qualifizierung und angemessener
Bezahlung mangele, sondern auch an Sensibilisierung und „interkultureller
Öffnung“ (Interview Jette O. vom 19.2.2014).7 Doch an dieser Stelle
hören die Schwierigkeiten noch nicht auf. Über die konkreten
Unterrichtsbedingungen hinausgehend gibt es Gründe, die das pädagogische
Konzept der separierten Beschulung neu zugewanderter Kinder in
Willkommensklassen an sich in Frage stellen. Das nächste Kapitel wird die
Effekte der getrennten Unterrichtung auf die Bildungschancen und die soziale
Integration der Schüler_innen in den Willkommensklassen untersuchen.
Erschwerte Bedingungen zum Deutschlernen
Vieles
spricht dafür, dass Willkommensklassen das Deutschlernen eher erschweren als
beschleunigen. Die Zuteilung zu ihnen basiert auf der Annahme, dass der
gemeinsame Unterricht mit anderen Sprachschüler_innen die Kinder gezielt
unterstütze. Die Nützlichkeit dieser Praxis ist aus spracherwerbstheoretischer
Perspektive zu hinterfragen, denn in der Linguistik gilt es als Konsens, dass
eine Sprache leichter zu erlernen ist, wenn eine Person sich in einem Umfeld
aufhält, in dem diese Sprache viel verwendet wird, da dies unbewusste und
implizite Lernvorgänge begünstigt (z.B. Klann-Delius 1999). Insbesondere junge
Kinder sind erfahrungsgemäß in der Lage, die Verkehrssprache durch die
Teilnahme am Unterricht und den Umgang mit anderen Kindern schnell zu erlernen
(McLaughlin 2012). Theoretisch berücksichtigt der Leitfaden des Senats dies mit
der Regelung, dass Kinder unter acht Jahren gemeinsam mit den übrigen
Schüler_innen die Schulanfangsphase besuchen sollen. Faktisch sieht die Lage
jedoch anders aus, da Schulen in der Nähe von Erst- und Notaufnahmeunterkünften
von Geflüchteten von dieser Regel ausgenommen sind. Dies wird damit begründet,
dass die Fluktuation von Familien, die nach etwa drei Monaten die Einrichtungen
verlassen und innerhalb des Stadtgebietes umziehen den Lernprozess der übrigen
Schüler_innen störe (Sen. BJW 2015, 12).
Lehrkräfte
der Schulen, an denen Willkommensklassen durch andere Methoden ersetzt wurden –
beispielsweise häufigen und niveauspezifischen Deutschunterricht für
zugewanderte Schüler_innen bei gleichzeitiger Teilnahme am normalen Unterricht –
beobachteten, dass in den Regelklassen besser Deutsch gelernt werde als zuvor
(vgl. Interview Valerie B. vom 19.2.2014; Interview Dagmar B. vom 27.2.2014).
Sie schilderten, dass deutsch in Gruppen mit einer hohen Konzentration von
Schüler_innen mit gemeinsamer Herkunftssprache wenig benötigt und genutzt
wurde, während es in stärker durchmischten Klassen eine größere Lernmotivation
gebe, weil dort deutsch zur gemeinsamen Verkehrssprache der Kinder wird. Es
liegen keine Daten vor zur sprachlichen Komposition der Berliner
Willkommensklassen. Aber da momentan die überwiegende Mehrheit der Personen,
die in Deutschland Asyl beantragen und auch Chancen auf ein längerfristiges
Bleiberecht haben, aus den Herkunftsländern Syrien und Irak kommen (BAMF 2016),
liegt es nahe, dass es Willkommensklassen gibt, in denen die Mehrheit arabisch
spricht. Zwar kann in einer Gruppe mit gemeinsamer Herkunftssprache sehr
produktives „dual language learning“ stattfinden, wobei sowohl Erst- und
Zweitsprache genutzt werden und einander stärken (Garcia/Markos 2015). Doch dafür müssten gezielt
arabischsprachige Lehrer_innen eingestellt und Klassen entsprechend zusammengestellt
werden, was momentan nicht der Fall ist. Das aktuelle Konzept fokussiert
ausschließlich das Deutschlernen und bezieht sich in keiner Weise auf die
Herkunftssprache.
Ein
weiteres Problem wurde darin gesehen, dass die Einteilung von Lerngruppen anhand
des Differenzkriteriums „nichtdeutsche Herkunftssprache” kein Garant für eine
homogene Schüler_innenschaft mit vergleichbaren Förderbedürfnissen sei. Im
Gegenteil, die Lehrkräfte mehrerer Schulen hoben hervor, dass die Kinder in
ihrer Klasse sich hinsichtlich ihrer „Sprache, Kenntnisse, Fähigkeiten,
Fertigkeiten” (Interview Nils S. vom
13.2.2014), sowie ihres Verhaltens und Alters stark unterscheiden. Bei geflüchteten
Kindern kommen außerdem die individuell sehr unterschiedlichen Erfahrungen von
Krieg, Flucht und Neuanfang hinzu (Interview Jette O. vom 19.2.2014).
Soziale Exklusion und Stigmatisierung der Willkommensklassen
„ ,Ach, ihr seid diese Speziellen, die kein Deutsch
können.’“ 8
Alle
befragten Lehrkräfte waren sich einig, dass ein weiteres Problem der
Willkommensklassen darin besteht, dass die getrennte Unterrichtung der neu
zugewanderten Schüler_innen die Kontaktaufnahme mit Mitschüler_innen, die in
Deutschland aufgewachsenen sind oder bereits seit längerem hier leben,
erschwert. Sie beschrieben wie die Separierung sich auch außerhalb des
Unterrichts fortsetzt, beispielsweise indem die Kinder in der Hofpause stets
unter sich blieben. Doch über den erschwerten sozialen Kontakt hinausgehend
ging aus den Interviews auch hervor, dass die Kinder in der Willkommensklasse
stets als ‚Andere’ wahrgenommen werden. Resultat der gegenseitigen Unkenntnis
waren ablehnende Haltungen und Vorurteile, die Schüler_innen der Regelklassen
sowie auch deren Eltern und das Lehrpersonal der Grundschulen den Kindern in
den gesonderten Lerngruppen gegenüber demonstrierten. Hormel & Scherr
erklären, dass die Konstitution sozialer und „ethnischer“9
Differenzierungen im Schulalltag sich vielfach mit „hoch problematischen,
ideologisch konturierten Annahmen über vermeintliche soziale, kulturelle oder religiöse
Besonderheiten“ verbindet (2009, 46).
Die
Lehrkräfte und Sozialarbeiter_innen beschrieben mehrere Situationen, in denen
Schüler_innen sich über die Kinder der Willkommensklassen lustig machten oder
es gar zu Konflikten kam, die auf „ethnischen“ Stereotypisierungen und
Abgrenzungen fußten. Da an den Neuköllner Schulen die überwiegende Mehrheit der
Kinder einen „Migrationshintergrund” hat, nahmen die Lehrkräfte eine Hierarchie
wahr, in der die zuletzt angekommenen Kinder die unterste Position einnehmen.
Die Erfahrung an den Schulen, an denen die Willkommensklassen abgeschafft
wurden, weisen darauf hin, dass die Ausgrenzungen und Konflikte besonders
extrem waren, solange die Kinder separiert unterrichtet wurden. Während eine
Sozialarbeiterin „Bandenprozesse“ auf dem Schulhof schilderte, die weniger
geworden seien, nachdem es die Willkommensklasse nicht mehr gab, beschrieb eine
Lehrerin, dass die Integration in Regelklassen rassistische Ressentiments
reduziere:
„Die sind jetzt in den Regelklassen. [...] Und drei dieser Roma-Kinder sind
da mit drin, sie kriegen manches noch ein bisschen später mit, aber es bringt
so eine Normalität. [...] Und es ist dann auch plötzlich ganz egal, da wird
keiner mehr sagen, 'das ist der David aus Rumänien'.“ (Interview Kisten
H. vom 27.2.2014)
Als eine
Ursache für die Konflikte unter den Schüler_innen benannten die
Interviewpartner_innen ablehnende bis feindselige Haltungen von Eltern
gegenüber neuen Zuwanderern. Diese Vorurteile gäben sie an ihre Kinder weiter.
Doch darüber hinaus beobachteten alle interviewten Lehrkräfte auch in ihren
eigenen Kollegien Vorbehalte. So würde den Kindern als Gruppe zugeschrieben,
schwächer und schwieriger um Umgang zu sein als die Norm. Wie bereits erwähnt, wurde
das Unterrichten der Willkommensklasse generell als eine Aufgabe
charakterisiert, vor der viele Lehrer_innen sich scheuen.
„Unsere Klasse wird immer so ein bisschen na, exotisch weiß ich nicht,
aber, ich hab öfter zu hören gekriegt, 'Ach ihr Armen, mit diesen (..) Kindern,
die noch nichts kennen, noch nichts können, oder nicht viel', und so 'DAS wäre
mir ja zu viel.'“ (Interview Nils S. vom 13.2.2014)
Aufgrund
der Unkenntnis und Vorurteile forderte eine Lehrerin vermehrte
anti-rassistische Fortbildung des Lehrerkollegiums und eine stärkeren
Fokussierung von Toleranz im Unterricht. Sie betonte, dass dafür jedoch ein
größerer Wille der Schule und der Lehrkräfte nötig sei. Diese Forderung
impliziert damit nicht nur einen Bedarf von finanziellen und zeitlichen
Ressourcen, sondern auch von Bereitschaft zur Selbstkritik in Schulkollegien.
Die
erschwerten Bedingungen zum Deutschlernen und der sozialen Integration in das
Schulleben werfen Zweifel am grundsätzlichen pädagogischen Konzept der
Willkommensklassen auf. Darum liegt die Annahme nahe, dass sie eher der
organisatorischen Erleichterung des Schullalltags dienen. Dafür spricht auch
der Blick auf grundlegende Gestaltungsprinzipien des deutschen Schulsystems und
ihren Zusammenhang mit struktureller Diskriminierung.
Der
monokulturell-monolinguale Habitus des deutschen Schulsystems
Die
anhaltende Bildungsbenachteiligung von Personen mit „Migrationshintergrund“ in
Deutschland ist seit dem Erscheinen der ersten PISA-Studie ausführlich
dokumentiert und kommentiert worden. Bildungsforscher_innen kritisieren
beispielsweise die frühe Separation von Schüler_innen anhand von durch Lehrkräften
getroffenen Schullaufbahnempfehlungen (Britz 2007; Baumert/Stanat/Watermann
2006; Baur 2010). Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass diese und andere
institutionelle Praktiken Kinder aufgrund ihrer sozio-ökonomischen Herkunft und
„Ethnizität“ systematisch benachteiligen (Gomolla/Radtke 2007). Mechthild Gomolla
argumentiert, dass Homogenität ein wirkmächtiges „Strukturprinzip“ (Gomolla 2009)
des deutschen Schulsystems ist, was sich insbesondere in seiner
Mehrgliedrigkeit und der frühen Leistungsselektion manifestiert. Heterogenität
hingegen werde innerhalb dieser Strukturen generell als Problem wahrgenommen.
In den Willkommensklassen spiegelt sich diese Idee wieder: Mit der Separation
nach Sprachkenntnissen wird der Versuch unternommen, homogene Lerngruppen zu
erschaffen. Dies steht jedoch im Widerspruch zu den von den Lehrkräften
wahrgenommenen „Binnendifferenzen“ der Kinder. Hier zeigt sich, dass Sprache
als Differenzkriterium andere Faktoren wie schulische Vorerfahrungen und
spezifische Bedürfnisse der Schüler_innen außer Acht lässt.
Vor diesem
Hintergrund werden auch die Schwierigkeiten der Lehrkräfte, mit den
unterschiedlichen Erfahrungen und Fähigkeiten der Kinder in den
Willkommensklassen umzugehen, verständlich. Die Mehrheit deutscher Lehrkräfte
ist an homogene Lerngruppen gewöhnt und nicht ausreichend auf den Umgang mit
Differenz vorbereitet. Nicht nur sind Migrant_innen in Lehrberufen weiterhin
unterrepräsentiert, auch die Darstellung von Lehrinhalten in Schulbüchern sind
überwiegend „westlich-weiß“ (Tajmel 2009, 144) konnotiert. Aufgrund dieser
monokulturellen Prägung haben Lehrkräfte häufig „Normalitätsannahmen“ (Hormel/Scherr
2009, 49), die nicht der Realität der Einwanderungsgesellschaft entsprechen.
Mehrsprachigkeit, multikulturelle Identitäten und andere Kompetenzen
zugewanderter Schüler_innen bleiben daher unbeachtet oder werden als
„bildungsbenachteiligende Eigenschaften“ (Stojanov 2010, 89) begriffen.
Darüber
hinaus muss die Konzeption der Willkommensklassen auch im Zusammenhang mit dem diskursiv
einflussreichen Verständnis von Integration als Assimilation gesehen werden.
Erklärtes Ziel der Willkommensklassen ist das Aufholen von Kompetenzen,
insbesondere Sprachkenntnissen. Dem liegt ein „kompensatorisches Konzept“
(Schründer-Lenzen 2009, 129) von Integration als Anpassungserwartung an die
Zuwanderer zugrunde, in dem Sprachlernfortschritt als Indikator für gelingende
Integration gilt. Im weiteren Sinn handelt es sich dabei um eine Anpassung der
Kinder an die im deutschen Schulsystem geltenden Werte und Verhaltensnormen.
Die
mangelnde Kompetenz von Schulpersonal für Diversität sowie die Dominanz eines
assimilativen Integrationskonzeptes zeigen sich auch in der geringen
schulischen Anerkennung für die Herkunftssprache der zugewanderten Kinder. Es
gibt zahlreiche Hinweise, insbesondere aus der Unterrichtspraxis in anderen
Ländern, dass die Förderung der Erstsprache „positive Transfereffekte“ (Dirim
u.a. 2009, 12) für das Erlernen der Zweitsprache mit sich bringt. Außerdem gilt
die schulische Anerkennung des Wertes der Herkunftssprache und der
multilingualen gesellschaftlichen Realität als ausschlaggebend für den
Schulerfolg von Migrant_innen (vgl. Gogolin/Neumann/Roth 2003). Obwohl auch die
Kultusministerkonferenz bereits 1996 anerkannte, dass „die
Muttersprachenkompetenz in erheblichem Maße zur Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung
bei[trägt]“ (Kultusministerkonferenz 1996), ist in Deutschland die Tendenz, die
Herkunftssprache aus dem Unterricht und möglichst auch vom Schulhof fern zu
halten, stärker ausgeprägt. Damit hält das Konzept der Willkommensklassen am von
Gogolin postulierten „monolingualen Habitus“ (1994) des deutschen Schulsystems
fest.
Die Kontinuität von „ethnischer“ Segregation in Berliner
Schulen
Die
Vorstellung, dass diverse Lerngruppen ein Problem seien, manifestiert sich
nicht nur auf der institutionellen Ebene, sondern ist auch diskursiv
einflussreich. Das zeigt sich in Prozessen sozialer und „ethnischer”
Segregation in der Berliner Schullandschaft, die vielfach dokumentiert und
untersucht wurden (zur Nieden/Karakayali 2015; Baur 2012; Sachverständigenrat
deutscher Stiftungen für Integration und Migration 2012). Auch die
Willkommensklassen können als Fortsetzung einer Tradition „ethnisch” segregierten
Unterrichts in Berlin verstanden werden. Diese ist jedoch anders als oft
angenommen nicht nur Resultat von elterlichem Schulwahlverhalten, sondern bereits
seit Jahrzehnten auch bildungspolitisch gesteuert (Baur 2012, Karakayali/zur
Nieden 2013). Der getrennte Unterricht in den Willkommensklassen wird anhand
der Einteilung von Schüler_innen in die Gruppen „deutschsprachig“ und
„nichtdeutsche Herkunftssprache“ legitimiert. Diese Kategorisierung ist zwar
nicht identisch mit einer Trennung nach Kriterien „ethnischer“ Gruppenzugehörigkeit,
kommt ihr aber doch sehr nahe. Karakayali/zur Nieden (2013) zeigen, dass schon
in den 1960ern in Stadtteilen mit hohen Anteilen von Migrant_innen an der
Bevölkerung sogenannte „Ausländerklassen“ eingerichtet wurden. Sie wurden
legitimiert durch die Befürchtung, dass ein „zu hoher” Anteil “ausländischer
Kinder” in Regelklassen negative Auswirkungen auf Unterricht und
Bildungserfolge habe (ebd.). Erst 1995, nachdem migrantische Vereine die
schulische Segregation der Kinder scharf kritisiert hatten, wurden die „Ausländerklassen”
durch eine Änderung des Berliner Schulgesetzes formell abgeschafft (Engin 2003,
zitiert nach ebd.). In diesem historischen Kontext lässt sich argumentieren,
dass in den Willkommensklassen das Kriterium der Sprachkenntnisse die Segregation
anhand der Kriterien „Ethnizität“ oder Nationalität ersetzt, da letztere nicht
mit geltenden Antidiskriminierungsvorgaben vereinbar10 und
argumentativ kaum begründbar wären. Doch unabhängig von der Frage, ob die schulische
Trennung mehrheitlich geflüchteter Kinder von mehrheitlich deutschen Kindern
intendiert ist oder nicht, hat die Separierung reale soziale Folgen.
Schlussbemerkungen
Das Land
Berlin ist sichtlich bemüht, dem gestiegenen Bedarf an Schulplätzen gerecht zu
werden und allen geflüchteten Kindern und Jugendlichen einen schnellen Einstieg
ins Schulsystem zu ermöglichen. Die schnelle und unkomplizierte Anstellung
vieler neuer Lehrkräfte und die Einrichtung von mehreren hundert Klassen in den
letzten Monaten zeugen von diesen Bemühungen. Doch die Aufnahme geflüchteter
Kinder in Berliner Schulen sollte nicht vorschnell als Integrationserfolg
proklamiert werden. Da der Schulbesuch laut UN-Kinderrechtskonvention ein
Grundrecht aller Kinder ist, sollte dies vielmehr eine Selbstverständlichkeit
sein (OHCHR 1990).
Um ihrem
Namen gerecht zu werden, müssten die Berliner Willkommensklassen zugewanderten
Kindern zu Chancengleichheit verhelfen. Die Erfahrungen und Bewertungen der im
Rahmen meiner explorativen Studie interviewten Lehrkräfte, Sozialarbeiter_innen
und Expert_innen zeigten jedoch, dass die getrennten Lerngruppen unter den
aktuellen Gegebenheiten in mehrerlei Hinsicht ihre Zielsetzungen verfehlen.
Anders als die Rahmenkonzeption vorsieht (vgl. Sen. BJW 2015), variierten die
Sprachvermittlungskonzepte und Qualifikationen der Lehrkräfte von Schule zu
Schule. Die primäre Gemeinsamkeit, die zwischen den Willkommensklassen zu
bestehen schien, war die Akkumulation hinderlicher Einflüsse auf die
Lernumgebung der Kinder. Das Erlernen der deutschen Sprache war durch die
Abwesenheit von Muttersprachler_innen erschwert. Außerdem waren einzelne
Lehrkräfte wegen schlechter Arbeitsbedingungen demotiviert sowie unzureichend
vorbereitet und qualifiziert für das Unterrichten in den Willkommensklassen.
Darüber hinaus ließ sich erkennen, dass die Separation der neu zugewanderten
Schüler_innen nicht nur den Kontakt zu anderen Kindern sowie die Partizipation
am Schulleben erschwert, sondern rassistische Ausschlüsse begünstigen kann.
Andere Kinder, Eltern und Lehrkräfte nahmen die Kinder aufgrund des
Sonderstatus der Klasse innerhalb der Schule als eine einheitliche Gruppe wahr,
der sie negative Eigenschaften zuschrieben.
Die
Hindernisse, die im Hinblick auf das Deutschlernen und die soziale Integration
von Kindern und Jugendlichen bestehen, sind besonders alarmierend, weil der
Übergang von der Willkommensklasse in den regulären Schulunterricht nicht immer
so schnell und reibungslos verlief wie angedacht. Doch ob die Trennung temporär
oder längerfristig ist, die defizitorientierte Perspektive auf die gesonderten
Lerngruppen, die ‚Nichtkönnen’ und aufzuholende Kompetenzen betont, birgt die
Gefahr, den Kindern einen dauerhaften Stempel als Außenseiter aufzudrücken.
Damit können sie eher zur Verstärkung als zum Abbau von Ungleichheiten für den
Bildungserfolg der Kinder beitragen.
Die aufgezeigten
Probleme scheinen jedoch nicht nur das Resultat gut
gemeinter, aber schlecht umgesetzter Richtlinien zu sein. Radtke argumentiert,
dass durch eine rein pädagogisierende Debatte über Bildungsungleichheit
„die Regierungskunst zur Erziehungskunst gedrosselt wird“ (2013, 15). Daher müssen
die Schwierigkeiten der Willkommensklassen auch im Kontext der im deutschen
Schulsystem dominanten Werte und Prinzipien verstanden werden. Die Kinder von
Migrant_innen und Geflüchteten, die momentan an Berliner Schulen neu angemeldet
werden, sind nicht die ersten, deren Erfahrungen, kulturelles Wissen und
Sprachkenntnisse nicht als Ressourcen, sondern als Integrationshindernisse
gesehen werden. Schon seit Generationen stellen die Homogenisierungs- und
Selektionsmechanismen des deutschen Bildungssystems eine Hürde für Kinder mit
„Migrationshintergrund“ dar, die sich häufig überschneiden mit der
Benachteiligung von Kindern nichtakademischer Eltern. Kritik an Verfehlungen
einzelner Lehrkräfte oder Schulen kommt daher ebenso zu kurz wie eine
Sichtweise, welche die Kinder selbst zur Ursache der Probleme erklärt, denn beide
Erklärungen blenden das zugrunde liegende gesellschaftliche und institutionelle
Gefüge aus.
Aus meinen
empirischen Beobachtungen und theoretischen Überlegungen ergeben sich mehrere Anregungen.
Solange die ethno-linguistisch segregierten Willkommensklassen bestehen, ist es
essentiell, dass sie den Spracherwerb und die soziale Inklusion nicht
behindern. Deshalb brauchen Schulen gut qualifiziertes Personal sowie
Lehrmaterial, das die Bedürfnisse von Deutschlernenden mit Arabischkenntnissen
besonders berücksichtigt. So sollte einerseits viel Kontakt zur deutschen
Sprache ermöglicht, und andererseits die Herkunftssprache der Schüler_innen wertgeschätzt
und in den Unterricht eingebunden werden. Den Lehrkräften, die in
Willkommensklassen unterrichten, sollten pädagogische Begleitung und
Vorbereitung für das Unterrichten von Deutsch als Zweitsprache angeboten
werden. Damit sie Gelegenheiten zur Fortbildung und Vernetzung mit anderen
wahrnehmen können, bedarf es angemessener Arbeitsbedingungen. Darüber hinaus
wäre eine stärkere Sensibilisierung des gesamten Schulpersonals für Diversität
und den Umgang mit Rassismus wichtig. Aufgrund all dessen spricht viel dafür,
dass insbesondere im Grundschulalter die schulische Integration besser gelingt,
wenn Kinder unmittelbar in die Regelklassen gehen und sie zusätzlich
regelmäßige und niveaugerechte Sprachförderung erhalten. Erfahrungen aus
öffentlichen Schulen in den USA könnten sinnvolle Anregungen für die
Konkretisierung solcher Forderungen sowie für weitergehende Forschung geben.
Dort werden seit Jahnzehnten verschiedenste Modelle des Spracherwerbs erprobt
und progressive Konzepte entwickelt, die mit dem Dualismus von Mutter- und
Nichtmuttersprache brechen (z.B. Garcia/Wei 2014).
Doch auch
über Fragen der Sprachvermittlung hinaus muss ein politisches Umdenken
stattfinden, damit strukturelle Diskriminierungen an Schulen abgebaut werden.
Diversität und Mehrsprachigkeit müssten an Schulen stärker normalisiert werden.
Beispielsweise sollten größere Bemühungen unternommen werden, damit Lehrpläne,
Unterrichtsmaterialien und die personelle Zusammensetzung von Schulkollegien
stärker den multikulturellen Identitäten und mehrsprachlichen Repertoires ihrer
Schüler_innen entsprechen.
Es gibt
bereits progressive Entwicklungen, die, wie die interviewten Lehrkräfte
berichteten, teils von unten aus der Unterrichtspraxis an Schulen hervor gehen.
Andernorts finden sie auch auf institutioneller Ebene statt, beispielsweise hat
der Kreis Unna die Praxis der „Integration von der ersten Unterrichtsstunde an“
(news4teachers 2016a) bereits 2012 unter dem Namen „Go-in-Schulen“ konzeptualisiert
(RAA Kreis Unna 2012). Der demographische Wandel der Schulen hat außerdem auch
intendierte sowie nichtintendierte Folgen, die das Schulsystem langfristig
verändern könnten. So führt der abrupt gestiegene Bedarf von Lehrer_innen für
Deutsch als Zweitsprache dazu, dass in den letzten Jahren mehr Bewerber_innen
mit „Migrationshintergrund“, an den Berliner Schulen angestellt wurden
(Berliner Abgeordnetenhaus 2015b). Derartige Veränderungen sind ein wichtiger
Schritt für eine Angleichung der Schulen an die Realität der
Einwanderungsgesellschaft. Momentan sind schnelle und pragmatische Reaktionen
auf die steigenden Zahlen neuer Schüler_innen wichtig. Doch um eine
Institutionalisierung der problematischen Aspekte der Willkommensklassen zu
vermeiden, bedarf es kontinuierlicher Reflexion, Weiterentwicklung und
Investitionen, unter anderem in die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften.
Anmerkungen::
1.
Beispielsweise forderte Thomas de Maizière jüngst härtere Strafen für
sogenannte „Integrationsverweigerer” (taz vom
28.3.2016: http://taz.de/De-Maizi%C3%A8re-fordert-haertere-Strafen/!5286989/,
aufgerufen am 12.4.2016).
2.
Derartige Aussagen basieren auf der
Annahme eines vermeintlich homogenen nationalen Wertekanons, der sich
grundsätzlich unterscheidet von den Wertvorstellungen von Migrant_innen
(Foroutan 2015).
3.
Fereidooni und Zeoli betonen, dass der
Begriff „Migrationshintergrund“ Homogenität suggeriert und somit
Verallgemeinerungen bewirkt, die eine „Andersartigkeit“ von Schüler_innen mit
„Migrationshintergrund“ gegenüber den deutschen Schüler_innen konstruiert
(2016). Da sich der Ausdruck jedoch im Bildungsdiskurs durchgesetzt hat und in
Ermangelung einer Alternative verwende ich ihn.
4.
Mithilfe
von leitfadengestützten Interviews befragte ich fünf Lehrkräfte und
Sozialarbeiter_innen von Neuköllner Grundschulen, die eng mit jüngst
zugewanderten Kindern zusammen arbeiteten, zu ihren Erfahrungen und Bewertungen
des Unterrichtsmodells. Des
Weiteren interviewte ich mehrere Expert_innen: Einen Mitarbeiter der
Roma-Selbstorganisation Amaro Foro e.V., der dank seiner sozialarbeiterischen
Tätigkeit an Schulen im Bezirk über besondere Expertise zu dem Thema verfügt,
eine Schulrätin des Bezirkes, sowie eine Lehrerin, die schulübergreifende
Vernetzung und Austausch von Lehrkräften zum Thema organisiert. Alle Interviews
wurden transkribiert und in Anlehnung an die strukturierende qualitative
Inhaltsanalyse nach Mayring ausgewertet (Mayring 2010; Flick 2007). Die Namen
aller Interviewpartner_innen wurden anonymisiert.
5.
Die Auskünfte erhielt ich per
E-Mail-Anfrage an die Stelle für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft.
6.
Interview Nils S. vom 13.2.2014.
7.
Trotz aller Schwierigkeiten und der von
den Expert_innen wahrgenommenen Fehlbesetzungen ist jedoch zu betonen, dass die
interviewten Lehrkräfte einen sehr engagierten Eindruck machten, die sich
teilweise in ihrer Freizeit mit den Lehrer_innen anderer Willkommensklassen
vernetzten.
8.
Indirektes Zitat aus dem Interview mit Valerie B. vom 19.2.2014.
9.
Ich verstehe „Ethnizität“ nicht
biologisch-essentialistisch, sondern als sozial konstruiertes - jedoch sehr
wirkmächtiges – Identitätskonzept (Hall 1994).
10.
Vgl. Allgemeines
Gleichbehandlungsgesetz:
http://www.gesetze-im-internet.de/agg/BJNR189710006.html, aufgerufen am
30.3.2016.
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Bitte diesen Beitrag wie folgt zitieren: Hannah Göppert (2016): Herzlich Unwillkommen? Eine Kritik am Berliner Konzept zur schulischen Integration geflüchteter Kinder. In: Gökce Yurdakul, Regina Römhild, Anja Schwanhäußer, Birgit zur Nieden, Aleksandra Lakic (Hg.): E-Book Project of Humboldt-University Students: Witnessing the Transition: Refugees, Asylum-Seekers and Migrants in Transnational Perspective. Preview (Weblog), https://www.blogger.com/blogger.g?blogID=863130166696833325#editor/target=post;postID=3697950972162993466;onPublishedMenu=allposts;onClosedMenu=allposts;postNum=0;src=link