Donnerstag, 2. Juni 2016

„Mia san ned nur mia“. Das ländliche Niederbayern nach einem langen Sommer der Migration


Von Michael Westrich

In: Gökce Yurdakul, Regina Römhild, Anja Schwanhäußer, Birgit zur Nieden, Aleksandra Lakic, Serhat Karakayali (Hg.): E-Book Project of Humboldt-University Students: Witnessing the Transition: Refugees, Asylum-Seekers and Migrants in Transnational Perspective. Berlin (forthcoming)


„In Passau stranden täglich Hunderte Flüchtlinge – Geschichten aus Deutschlands Lampedusa“[i], schrieb „Die Zeit“ am 06. August 2015. Nach einem längeren europäischen Asylpoker hatte Mazedonien Anfang August erfolglos die Grenze zu Griechenland geschlossen, was in Ungarn kurz darauf zu einem Anstieg der ankommenden Geflüchteten und letztendlich zu einer Eskalation führte, die in einen gemeinsamen Marsch der Menschen Richtung Österreich und Deutschland gipfelte. Für manche begann in diesen Tagen die „Flüchtlingskrise“, für andere die „Krise des Grenzregimes“ und ein „langer Sommer der Migration“[ii]. Stadt und Landkreis Passau, als deutsche Außengrenze und einer der Endpunkte dieser Route, wurden auf diese Weise unerwartet mit der Ankunft tausender Migrant*innen konfrontiert, was für mich, der ich dort aufgewachsen bin, eine persönliche Geschichte aufgriff und fortschrieb.
Die Grenzen der Gegend hatten meine Kindheit geprägt, zuerst, weil sie geschlossen waren und als gefährlich galten, später, weil sie offen waren und der kleine Grenzverkehr zum Alltag gehörten. Bis die Schengen-Verträge die Grenze zu Österreich und der Fall des Eisernen Vorhangs die nur 60 Kilometer entfernten Schlagbäume zum heutigen Tschechien öffneten, fristete die Gegend ein Leben in der Peripherie Europas. In Verbindung mit dem für Fremde schwer verständlichen Dialekt, den oft als eigenwillig beschriebenen Umgangsweisen, sozialen Routinen und Formen von Humor hatte sich so eine lokale Identität herausgebildet, mit der ich aufgewachsen bin. Sie lässt sich, einem gängigen, geflügelten Ausdruck entsprechend, auf die Formel bringen: „Mia san mia“, „Wir sind wir“. Dass dieser Regionalismus jedoch keineswegs – wie man vielleicht vermuten würde – zwangsläufig fremdenfeindlich ist, zeigt sich im Kontext Migration.
Die Ankunft der so genannten Asylbewerber*innen in den 1990er Jahren und den erstarkenden Rechtsradikalismus hatte ich intensiv miterlebt, in den Konflikten um die Unterkunft in meinem Heimatstädtchen Hauzenberg wurde ich in gewisser Weise politisch sozialisiert. Migration, der Wandel, den sie in Grenzregionen anstößt und die Utopie einer anderen Welt, die daraus entstehen kann, hatten mich durchs Studium begleitet; in meiner Dissertation[iii] vollzog ich die neuen Gemeinschaften, die sich im Zuge dessen bilden können, an der Meerenge von Gibraltar als „praktizierten Kosmopolitismus“ nach, was mir die Bedeutung lokalgeschichtlicher, narrativer Ablagerungen[iv] für die aktuellen sozialen Dynamiken vor Augen führte. Als meine Heimat im Sommer 2015 zu einem der diskursiven Zentren europäischer Migrationspolitik wurde, nahm deshalb eine persönliche Reise, auf der ich mich seit Jahren befand, eine unerwartete Wendung. Wie würde eine Gegend, die einen gewissen Stolz auf Eigensinn und Abgrenzung ausgebildet und mit der Wendung „mia san mia“ belegt hatte, auf die Bewegung der Migration reagieren? Da ich nicht primär zum Forschen nach Passau gefahren bin, versuche ich keineswegs, darauf eine ausgearbeitete Antwort zu liefern. Allerdings kann ich anhand von autoethnographischen Skizzen Konstellationen umreißen, die zeigen, wie die so genannte „Flüchtlingskrise“ die Ambivalenzen und Gleichzeitigkeiten eines historisch gewachsenen „Ethos der Region“ (Lindner 1994) sichtbar macht und damit zur Kosmopolitisierung gesellschaftlicher Solidarität beiträgt.

Szenen aus Niederbayern
Wenn ich zur Abendstunde in meiner alten Heimat ankomme, schweigt der Bahnhof für gewöhnlich. Zeitungskiosk, Bäckerei und Fahrkartenschalter sind geschlossen. Passau ist mit etwas mehr als 50.000 Einwohner*innen ein Ort überschaubarer Größe, gelegen an und geprägt von der deutsch-österreichischen Grenze. An der Burgveste Unterhaus fließen jene drei Flüsse ineinander, die den Charme „Kleinvenedigs“ ausmachen, zahlreiche Tourist*innen anlocken und regelmäßig die Innenstadt mit Hochwasser überschwemmen. Der Wahlspruch des Stadtmarketings lautet: „Grenzenlos lebenswert“, was die Bedeutung der Grenznähe positiv hervorhebt. In den Jahrzehnten des Kalten Krieges hatte die Gegend jedoch genau deshalb ein Dasein in der Peripherie gefristet. Nach dem Bau der Mauer und der Errichtung des Eisernen Vorhangs grenzte der Landkreis Passau nicht nur entlang seiner Ostseite an Österreich. Auch die Schlagbäume zur damaligen CSSR lagen nahe, was die Gegend touristisch und wirtschaftlich relativ uninteressant machte. Erst das Schengen-Abkommen und die Grenzöffnung der 1980er Jahre sowie die spätere EU-Osterweiterung veränderten die Marginalisierung der Gegend grundlegend, vom Rande Europas rückte Passau in seine Mitte. Dass dies mit Migration verbunden ist, erfuhr Passau bereits im Vorfeld der Wiedervereinigung, als tausende DDR-Geflüchtete die neue Situation nutzten und über Ungarn in die Dreiflüssestadt einreisten, wo sie in der damaligen Nibelungenhalle und in Zeltlager-Siedlungen untergebracht und verpflegt wurden. Passau wurde zu einer Passage. Die so genannte „Flüchtlingskrise“ des Jahres 2015 rückte den Ort jedoch stärker in den medialen und politischen Fokus als irgendein Ereignis zuvor, was die „Times“ überschrieb mit: „Welcome to Germany: sleepy backwater becomes frontier town“[v].
Es ist daher nicht verwunderlich, dass Bahnhof und Innenstadt im Sommer 2015 weniger ruhig scheinen als sonst. Ich steige aus dem Zug und finde mich inmitten dunkelblau uniformierter Bundespolizist*innen wieder, die an den Bahnsteigen stehen und Ausweise kontrollieren, Menschengruppen zu einem am Ausgang errichteten Zelt eskortieren, die Züge durchforsten – und dabei nicht fotografiert werden wollen, wie ich im Selbstversuch in Erfahrung bringe. Die große Zahl von Geflüchteten wird politisch als „Flüchtlingskrise“ wahrgenommen und genau so behandelt: als Ausnahmezustand, der unter Kontrolle zu bringen ist. Der Brennpunkt, der Anfang Oktober täglich in den nationalen Medien gezeigt wird, um dies zu illustrieren, ist der Grenzübergang Wegscheid, eine Gemeinde im nördlichen Zipfel des Landkreises, unweit meines Heimatstädtchens Hauzenberg. In Wegscheid leben 5500 Menschen, und vermutlich ist es das erste Mal in der Geschichte der Gemeinde, dass ihr Bürgermeister in allen überregionalen Abendnachrichten zu Wort kommt. Zu Spitzenzeiten passieren etwa 2000 Menschen pro Tag die Grenze des kleinen Ortes, was ihn als „Hot Spot“, der entlastet werden muss, vorübergehend ins Zentrum der europäischen Migrationspolitik rückt – und des Alltags.
Denn der politische konstatierte Ausnahmezustand wird maßgeblich ehrenamtlich bearbeitet, und manchmal scheint es, als sei die Unterstützung von Geflüchteten ein Wesenszug der Gegend. Abseits der Brennpunkte – im Supermarkt, am Gartenzaun, in Familiendiskussionen – fällt jedoch immer wieder auf, dass die Frage nach dem angemessenen Umgang mit den „Fremden“ zentrale Identitätsnarrative, die sich direkt oder indirekt auf die Eigenarten der Gegend beziehen, herausfordern. Dazu gehört die Vorstellung eines regional eigenen „Menschenschlages“, wie ihn die Gemeinde Wegscheid auf ihrer Website beschreibt: „Die z. T. harten Bedingungen haben im Wegscheider Land einen Menschenschlag geformt, der treu an seiner Heimat hängt und ihre herbe Schönheit liebt.“[vi] Wenn es um den Umgang mit Fremden geht, die sich im ländlichen Niederbayern aufhalten, lassen sich solche regionalen Identitätserzählungen in einfacher und plausibler Weise mit Haltungen verschränken, die sich gegen Fremde richten.

Alltagsdistanzen
Politisch legte sich das Thema Migration schwer über den Alltag in den kleinen Orten entlang der Grenze im Landkreis Passau. Die CSU-geführte Landesregierung trug ihren Teil dazu bei, indem sie stets versuchte, so schien es mir, Franz Josef Strauß’ Diktum , keiner demokratischen Partei rechts von ihr Platz zu lassen, gewissenhaft zu erfüllen. Den Passauer Bundestagsabgeordneten und CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer zitierte die lokale Tageszeitung mit den Worten: „‚Deutsche Leitkultur ist viel mehr als das Grundgesetz’. Dazu gehörten ‚unsere Traditionen, unsere Lebensweise und unsere gemeinsamen Werte’“[vii]. Es seien „gerade die christlichen Werte (...), die unsere Heimat prägen und zeigen, wo unsere Wurzeln liegen“[viii], führte der CSU-Landrat Franz Meyer an anderer Stelle aus, und ähnliche Aussagen lassen sich an verschiedenen Stellen im niederbayerischen Alltag vernehmen –  beispielsweise im Sportverein.
Wir befinden uns in einer der wenigen Hallen in der Umgebung, in der weiterhin trainiert wird, viele wurden zu Notunterkünften umgewidmet. Beinahe unvermeidlich fällt das Gespräch an irgendeinem Punkt auf die Frage nach dem angemessenen Umgang mit den Migrationsbewegungen, und so gut wie alle Anwesenden können Anekdoten erzählen, die die Irritationen der persönlichen Begegnung mit jenen Menschen beschreiben, die als Geflüchtete im Landkreis Passau ankommen. Der Imagination einer lokalen Gemeinschaft, die in der Formel „mia san mia“ ihren Ausdruck findet, kommt dabei – in ihren verschiedenen Spielarten – eine zentrale Rolle zu. Sie dient der Konstruktion von kultureller und religiöser Differenz und als Legitimation für Ausschluss. Mit dieser Logik bin ich seit meiner Kindheit vertraut. Mit ihr wird mein aus der Pfalz stammender Vater, nach etwa 40 Jahren in Bayern immer wieder im Spaß oder im Ernst zum außenstehenden „Preußen“ degradiert; sie ist es, die mitschwingt, wenn ein Bekannter, als Gastarbeiter in den 1960er Jahren von Italien nach Deutschland gekommen, noch heute mit dem Spitznamen „Itaker“ gerufen wird; und sie ist daran beteiligt, wenn sich die in Deutschland aufgewachsenen, aber aus dem Kosovo stammenden Nachbarskinder lieber mit albanischen Jugendlichen, die ähnliche Erfahrungen wie sie gemacht haben, umgeben als mit deutschen. Auf diese Weise verbirgt die „mia san mia“-Rhetorik, seit ich sie kenne, kulturalistische Abwehrreflexe oder auch rassistische Stereotype hinter einem lokal vorhandenen, bekannten Identitätsnarrativ, das sie zu normalisieren und als sozial unproblematisch zu entwerfen hilft. Dazu greift sie auf die Vorstellung zurück, gesellschaftliche Solidarität gelinge am besten unter Bedingungen kultureller Nähe (vgl. Bayertz 1998), was nicht nur die politische Kontrolle von Grenzziehungen nahelegt, um unter Bedingungen von Migration ein funktionierendes Zusammenleben zu ermöglichen. Ein „Wir“ der Gleichen mit dem Verweis auf die „Anderen“ mit „ihrer“ Lebensweise, „ihrer“ Kultur etc. zu entwerfen, ist aktiv an der (Re-)Produktion von Differenz und der Legitimation von Exklusion beteiligt. Das Narrativ einer regionalen Eigenart droht mit den essentialistischen Positionen der Neuen Rechten zu paktieren. Unter dem Vorzeichen von „Abstammungsgemeinschaften“ (vgl. Lindner 1994, 202) und mit Begriffen wie „Ethnopluralismus“ wird gegen nationale, kulturelle, religiöse und potentiell gefährliche Andere mobil zu machen versucht.
Die „Krise des Grenzregimes“ und die Auseinandersetzungen um eine Politik der offenen bzw. geschlossenen europäischen Grenzen mobilisieren aber nicht nur jene „historisch gesättigten Vorstellungen“ (Lindner, zit. nach Schweiger 2010, 253) des Eigenen, die sich gegen Zuwanderung wenden lassen, weil sie die vermeintliche Bedrohung des Status Quo durch Fremde kritisieren. Diese Krise mobilisert auch die auf den ersten Blick weitgehend unsichtbaren Genealogien, die das „regionale Imaginäre“ (ebd.) ausmachen. Folge dessen ist, dass das kulturelle bzw. religiöse „Wir“ als unmarkierte Seite einer Unterscheidung zwischen Geflüchteten und Einheimischen nicht nur neue Bedeutung und Plausibilität gewinnt, sondern gleichzeitig seine vermeintliche Fraglosigkeit verliert. Denn im Kontext einer wahrgenommenen „Flüchtlingskrise“ und den zwischenmenschlichen Begegnungen, die daraus hervorgehen, treten die verflechtungsgeschichtlich angelegten Ambivalenzen des regionalen „Ethos“ (ebd.) zu Tage. Deutlicher als in meinen beschriebenen Kindheitserinnerungen beobachtete ich im Sommer 2015, dass die identitären Rückzüge auf ein regionales „Wir“ keineswegs humanitäre Positionen und Hilfsbereitschaft ausschließen, sondern sich in vielfältiger und komplexer Weise mit ihnen überlagern. Die unausweichlichen Begegnungen mit dem Thema Migration im Alltag führen vor Augen, wie die Imagination einer homogenen, lokalen Abstammungsgemeinschaft, die von den globalen Entgrenzungen unberührt bleiben könnte, von innen aufbricht.

Geschichten der Hilfsbereitschaft
Fragt man die zahlreichen, zum Teil unermüdlich wirkenden Helfer*innen, warum sie sich engagieren, nennen sie christliche Nächstenliebe, humanistische Vorstellungen vom Recht auf Menschenrechte oder eine Kritik gegenüber dem politischen Grenzregime bzw. der anti- migrantischen Rhetorik rechtspopulistischer Gruppen als Gründe. Doch auch sie müssen im lokalen Kontext gelesen werden, was zur Erzählung jenes „Wir“ zurückführt, das auf den ersten Blick der Abgrenzung der Einheimischen von den geflüchteten Anderen dient. In der Praxis der Geflüchtetenunterstützung – also in der menschlichen Begegnung, dem gegenseitigen Austausch und dem Aushandeln der dabei unvermeidlichen Konflikte – entstehen Bündnisse, die ebenfalls die lokale Identität des „mia san mia“ zentral stellt, sich damit aber gegen unterschiedliche Politiken der Diskriminierung von Schutzsuchenden positioniert. Der im Nachbarlandkreis Freyung-Grafenau entstandene Zusammenschluss „Da Woid is bunt“ (Der Wald ist bunt) trägt dieses Selbstverständnis im Namen. Es steht, so heißt es in seiner Agenda,
„...für einen offenen Bayerischen Wald, in dem Fremde, Minderheiten und Migranten genauso dahoam sein können, wie diejenigen, die seit Generationen zwischen Passau und Cham leben.“[ix]
Indem Gruppen wie „Da Woid is bunt“ die Anwesenheit von Menschen, die nicht in die Idee einer lokalen Gemeinschaft der Gleichen passen, in die Imagination sozialer Vergemeinschaftung „im Wald“ aufnehmen, legen sie die Spur zu einer widerborstigen lokalen Genealogie des „mia san mia“-Motivs.

Die neue Welt
Als „neue Welt“ wird im Volksmund die Gegend von Breitenberg im östlichen Landkreis Passau bezeichnet. Wenn es auch auf den ersten Blick nicht unmittelbar mit den Diskussionen um Geflüchtete zu tun hat, eignet es sich doch, um die Vorstellung eines regional typischen „Menschenschlages“ mit einer weiteren, im Kontext Migration ebenfalls wirkmächtigen Dimension des „mia san mia“ zu ergänzen.
Darauf aufmerksam wurde ich durch einen Zufall. Kurz vor dem „langen Sommer der Migration“ fand meine Mutter heraus, dass ihr längst verstorbener Onkel kurz vor dem Zweiten Weltkrieg in einem lokal verbreiteten Heftchen über Breitenberg die Geschichte der „Neuen Welt“ (Gruber 1930) beschrieben hatte. Er führte die Bezeichnung auf den Passauer Fürstbischof Wenzeslaus Graf von Thun zurück, der die Region im 17. Jahrhundert aus finanziellen Gründen in seinen politischen Einflussbereich aufnahm. Weil die Gegend bis dahin Urwald gewesen sei, gab der Fürstbischof den Auftrag, die Gegend zu „kolonisieren“ und landwirtschaftlich nutzbar zu machen. Es liegt nahe, dass jene „unzivilisierte“ „Neue Welt“ aber keineswegs unerschlossen war. Denn vom 14. bis zum 17. Jahrhundert diente Breitenberg als Transitregion für den internationalen Ochsenhandel, der die Weideflächen in Südosteuropa über den „Ungarnsteig“ mit den urbanen Zentren Süddeutschlands und entlang des Rheins verband[1]. Der Nürnberger Heimatforscher Wolfgang von Stromer beschreibt in einem Artikel namens „Wildwest in Europa“ (Stromer 1979), wie der Viehhandel die Menschen entlang der Route entweder in die Armut trieb, weil ihre Felder und Wiesen zertrampelt wurden, oder ihnen zu Reichtum verhalf, wenn sie sich darauf einstellten und z.B. Futter verkauften. „Wildwest“ deutet aber ebenfalls an, dass mit der Errichtung kontrollierter Grenzen auch die Entstehung grenzüberschreitender Praktiken verbunden waren. So änderten sich die Handelswege und ihre Nutzung zwar im Verlaufe der Geschichte immer wieder, sie verschwanden jedoch selbst dann nicht mehr, wenn die Grenzen aus politischen Gründen geschlossen wurden. Stromer führt aus, dass sie in den 250 Jahre dauernden Kriegen gegen das Osmanische Reich und sogar nach der Errichtung des Eisernen Vorhangs intakt blieben – aus legalem Handel wurde Schmuggel. Die Jahrhunderte alten Handelswege und die Versuche, sie politisch unter Kontrolle zu bringen, sind nicht nur die historischen Fundamente für die Routen der Migration, die aus dem Balkan in die deutschen und europäischen Zentren führen, sondern auch die verschwiegenen identitären Grundlagen einer Region, die seit Jahrhunderten gleichermaßen Grenz- wie Transitzone ist. Wie tief diese Identitäten in der Region verankert sind, zeigen die vor einigen Jahren eröffneten Wanderwege, die die Passauer Grenzregionen auf den alten „Schmugglerpfaden“ mit den Gebieten in Österreich und Tschechien verbinden. Auf der Projektwebsite wird ein Beitrag der Volkskundlerin Elisabeth Schiffkorn zitiert, in dem sie verschiedene Beispiele der Schmuggel-Praxis beschreibt. Erst mit der EU-Europäisierung seien die Aktivitäten an der grünen Grenze zurückgegangen[x].
Die gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Geflüchtetenbewegungen im Sommer 2015 aktualisierte daher die bis dahin im Kontext Migration wenig beachtete Geschichte einer Region, zu derem „regionalen Ethos“ das Unterlaufen und Überschreiten politisch gezogener Grenzen ebenso gehören wie die identitäre Abgrenzung nach außen. Insoweit führen die kontrovers geführten Debatten über das Eigene und das Fremde in einem Moment der gefühlten Krise und ihre Ambivalenzen unmittelbar in die vielschichtigen lokalhistorischen Sedimente, auf die sich die Bevölkerung berufen kann, wenn sie sich mit den Geflüchteten gegen bayerische, nationale oder europäische Grenzpolitiken solidarisiert und Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit bzw. Rechtspopulismus kritisiert. Die Gruppe „Da Woid is bunt“ illustriert diese Gleichzeitigkeit (bewusst oder unbewusst), indem sie den Rückgriff auf den Wald als regionale Identität mit der Positionierung gegen jene „Ewiggestrigen, die mit ihren immer gleichen dumpf-dummen und angstgetriebenen Stammtischparolen Stimmung machen wollen gegen Menschen, deren Schicksale sie nicht kennen“[xi] verbindet. Sich mit Menschen, „deren Schicksal man nicht kennt“ (ebd.) unter dieser Prämisse zu solidarisieren, aktualisiert lokalhistorische Identitätsnarrative aber nicht nur, sondern verändert sie auch.

Die Kosmopolitisierung des „mia“
In einer Familie, die in einem kleinen Ort im Landkreis Passau lebt, gab es Streitigkeiten zwischen Vater und Tochter. Die Tochter – eine Freundin von mir, die ebenfalls dem Sommer der Migration in die Heimat gefolgt war – freundete sich im Zuge des Engagements für Geflüchtete mit einem Syrer an. In welcher Beziehung die beiden zueinander standen, ist mir nicht bekannt, jedenfalls brachte sie ihn gegen den Willen des Vaters mit in ihr Elternhaus und stellte ihn vor. Überraschenderweise entstand zwischen dem Geflüchteten und dem Vater ein reger Austausch. So kam es, dass der Syrer auf einem kleinen See in der Nähe von Hauzenberg die lokale Variante des Eisstockschießens erlernte und Teil einer Gruppe wurde, die in ähnlich prägnanter Weise für Ausdruck Bayerischer Tradition gesehen werden kann wie ein Trachtenverein. Der Vater hingegen lernte den Alltag, die Imaginationen und die Sorgen von Geflüchteten kennen und damit auch die Widersprüche, die die europäische Migrationspolitik auf individueller Ebene produziert. Solche Entwicklungen deuten die unaufhaltsame Transformation jener Imagination an, die im geflügelten Wort des „mia san mia“ ihren Ausdruck findet: in der sozialen Praxis des Alltags, in Folge der Begegnungen zwischen Menschen, die sich sonst fremd geblieben wären, und den Auseinandersetzungen, die sie unweigerlich nach sich ziehen.
Meine (auto-)ethnographischen Skizzen und die daran anschließenden Überlegungen nehmen weder in Anspruch, diese Auseinandersetzungen umfassend darzustellen, noch, sie en detail zu interpretieren. Einen Einblick in die Logik der sozialen Dynamiken, die den Landkreis Passau im langen Sommer der Migration beherrschten, können sie jedoch durchaus geben. Zum einen, weil sie die Gleichzeitigkeit von Unterstützung und Abgrenzung demonstrieren, die charakteristisch für die aktuellen Diskussionen um Migration ist. Zum anderen thematisieren sie die Wirkmächtigkeit eines „Ethos der Region“ im Kontext Flucht, was für gewöhnlich zu Gunsten anderer Perspektiven ausgeblendet wird. Dabei sind es gerade die lokalhistorischen Sedimente, die die Spuren für ein gelingendes zukünftiges Zusammenleben legen. Im Landkreis Passau stellen sie den politisch sicht- und auch im Alltag spürbaren Tendenzen, „mia san mia“ gegen Geflüchtete in Stellung zu bringen, eine widerständige, aus der Praxis der Grenzüberschreitung hervorgehende Genealogie des Narrativs gegenüber.
Darin wiederum liegt der Samen einer politischen Vision, die es für die Gestaltung des Zusammenlebens in der Migrationsgesellschaft dringend braucht. Sie steht im Mittelpunkt einer kulturanthropologischen Kosmopolitismusforschung, die nicht nur nachzuvollziehen versucht, wie die innere Globalisierung die Grenzen politischer Vergemeinschaftung aufbricht, sondern auch nach den Konsequenzen für Gemeinsinn und gesellschaftlichen Zusammenhalt fragt (vgl. Römhild und Westrich 2013). Als Ausgangspunkt wählt sie eine ethnographische „Perspektive der Migration“, die der eigenen Involviertheit und den Irritationen des forschenden Blicks – auch unter Einsatz künstlerischer bzw. filmischer Mittel – folgt, um im Alltag der „Kosmopolitisierung“ nach „kosmopolitischen Praktiken“ (Römhild 2007) zu fahnden. Gleichzeitig entwirft sie damit die Umrisse eines aus der sozialen Praxis hervorgehenden Kosmopolitismus-Begriffs, der dazu in der Lage ist, bei der Neuausrichtung der europäischen Idee Pate zu stehen. Ganz in diesem Sinne enden auch die kursorischen Ausführungen über das „mia san mia“ im Landkreis Passau mit einem Funken Utopie.
Nachdem ich in den nationalen Medien Berichte über meine alte Heimat gesehen und mich dorthin begeben hatte, traf es mich nicht unerwartet, dass viele Menschen mit Angst und Abwehrreflexen reagierten, als plötzlich hunderte Geflüchtete täglich in der Region ankamen. Doch gleichzeitig wurde ich Zeuge solidarischer Momente, die aus der Logik lokaler Identitätsnarrative entstanden, sie aber im Kontext Migration aktualisierten und damit veränderten. Den Blick für sie zu schärfen und sie gezielt zu unterstützen, scheint mir die Voraussetzung zu sein für die Konstitution einer kosmopolitisch erneuerten „imagined community“ (Andersson), die eine inklusive Gesellschaft vorantreibt, ohne sich in die nationalen Untiefen der Rede von der Integration zu begeben. In den Worten eines Konzertplakats, das den ehrenamtlichen Helfer*innen gewidmet war, ließe sich im lokalen Duktus als Wegmarke formulieren: „Mia san ned nur mia“ („wir sind nicht nur wir“). Vorausgesetzt, das Ziel besteht darin, die Negation durchzuhalten und sie damit loszuwerden.

Literaturverzeichnis
Bayertz, Kurt (1998): Begriff und Problem der Solidarität. In: Kurt Bayertz (Hg.): Solidarität. Begriff und Problem. Frankfurt am Main, 11-53.
Gruber, Alois (1930): Die Neue Welt. Breitenberg.
Lindner, Rolf (1994): Das Ethos der Region. In: Rolf Lindner (Hg.): Die Wiederkehr des Regionalen: Über neue Formen kultureller Identität. Frankfurt a.M., 201-231.
Römhild, Regina (2007): Alte Träume, neue Praktiken: Migration und Kosmopolitismus an den Grenzen Europas. In: Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Bielefeld, 211-228.
Römhild, Regina, Michael Westrich (2013): Kosmopolitismus an der Grenze: Der Mittelmeerraum als Laboratorium für transversalen Gemeinsinn. In:  Zeitschrift für Kulturwissenschaften.
Schweiger, Tobias (2010): Räuber, Raufer, Dickschädel. Zur kumulativen Textur des Innviertels. In: Beate Binder, Moritz Ege, Anja Schwanhäußer, Jens Wietschorke (Hg.): Orte - Situationen - Atmosphären. Kulturanalytische Skizzen. Frankfurt a.M./New York, 247-259.
Stromer, Wolfgang von (1979): Wildwest in Europa. Der transkontinentale Ochsenhandel in der frühen Neuzeit. In:  Kultur und Technik 3 (2), 36-43.

Endnotes


[1] Auch interkontinental genannt, da die Ochsen von dem Kumanen aus der eurasischen Steppe nach Ungarn gelangt waren, vgl. dazu Stromer (1979)


[i] http://www.zeit.de/2015/32/fluechtlinge-bayern-passau, aufgerufen am 01.04.2016
[ii] zuerst so benannt von Kasparek und Speer, http://bordermonitoring.eu/ungarn/2015/09/of-hope/, aufgerufen am 01.04.2016
[iii] unveröffentlicht, https://www.euroethno.hu-berlin.de/de/forschung/labore/europaeisierungsforschung, aufgerufen am 26.04.2016
[iv] Schweiger (2010) spricht von „kumulativen Texturen“
[v] http://www.thetimes.co.uk/tto/news/world/europe/article4534531.ece, aufgerufen am 01.04.2016
[vi] http://www.wegscheid.de/gemeinde/geschichte.html, aufgerufen am 01.04.2016
[vii] http://www.pnp.de/region_und_lokal/stadt_und_landkreis_passau/passau_stadt/ 1829343_Scheuer-Fluechtlinge-muessen-deutsche-Leitkultur-anerkennen.html, aufgerufen am 29.03.2016
[viii] In einer Rede vor den Maltesern, online einsehbar unter http://www.landkreis-passau.de/Presse/RedendesLandrats/2016.aspx, aufgerufen am 29.03.2016
[ix] Zitat aus der Selbstbeschreibung auf Facebook, https://www.facebook.com/dawoidisbunt/, aufgerufen am 01.04.2016
[x] http://www.schmuggler.at/Volkskundetagung.htm, aufgerufen am 01.04.2016
[xi] https://www.facebook.com/dawoidisbunt/, aufgerufen am 01.04.2016


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Flavia Alice Mameli / Josefine Londorf Sarkez / Anne Van Wetteren (2016): Sensing Tempelhofer Freiheit. In: Gökce Yurdakul, Regina Römhild, Anja Schwanhäußer, Birgit zur Nieden, Aleksandra Lakic, Serhat Karakayali (Hg.): E-Book Project of Humboldt-University Students: Witnessing the Transition: Refugees, Asylum-Seekers and Migrants in Transnational Perspective. Preview (Weblog), https://www.blogger.com/blogger.g?blogID=863130166696833325#editor/target=post;postID=3697950972162993466;onPublishedMenu=allposts;onClosedMenu=allposts;postNum=0;src=link

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