Von Michael Westrich
In: Gökce Yurdakul, Regina Römhild, Anja Schwanhäußer, Birgit zur Nieden, Aleksandra Lakic, Serhat Karakayali (Hg.): E-Book Project of Humboldt-University Students: Witnessing the Transition: Refugees, Asylum-Seekers and Migrants in Transnational Perspective. Berlin (forthcoming)
„In Passau stranden täglich
Hunderte Flüchtlinge – Geschichten aus Deutschlands Lampedusa“[i], schrieb
„Die Zeit“ am 06. August 2015. Nach einem längeren europäischen Asylpoker hatte
Mazedonien Anfang August erfolglos die Grenze zu Griechenland geschlossen, was
in Ungarn kurz darauf zu einem Anstieg der ankommenden Geflüchteten und letztendlich
zu einer Eskalation führte, die in einen gemeinsamen Marsch der Menschen
Richtung Österreich und Deutschland gipfelte. Für manche begann in diesen Tagen
die „Flüchtlingskrise“, für andere die „Krise des Grenzregimes“ und ein „langer
Sommer der Migration“[ii]. Stadt
und Landkreis Passau, als deutsche Außengrenze und einer der Endpunkte dieser
Route, wurden auf diese Weise unerwartet mit der Ankunft tausender
Migrant*innen konfrontiert, was für mich, der ich dort aufgewachsen bin, eine
persönliche Geschichte aufgriff und fortschrieb.
Die Grenzen der Gegend hatten meine
Kindheit geprägt, zuerst, weil sie geschlossen waren und als gefährlich galten,
später, weil sie offen waren und der kleine Grenzverkehr zum Alltag gehörten. Bis
die Schengen-Verträge die Grenze zu Österreich und der Fall des Eisernen
Vorhangs die nur 60 Kilometer entfernten Schlagbäume zum heutigen Tschechien
öffneten, fristete die Gegend ein Leben in der Peripherie Europas. In
Verbindung mit dem für Fremde schwer verständlichen Dialekt, den oft als
eigenwillig beschriebenen Umgangsweisen, sozialen Routinen und Formen von Humor
hatte sich so eine lokale Identität herausgebildet, mit der ich aufgewachsen
bin. Sie lässt sich, einem gängigen, geflügelten Ausdruck entsprechend, auf die
Formel bringen: „Mia san mia“, „Wir sind wir“. Dass dieser Regionalismus jedoch
keineswegs – wie man vielleicht vermuten würde – zwangsläufig fremdenfeindlich
ist, zeigt sich im Kontext Migration.
Die Ankunft der so genannten
Asylbewerber*innen in den 1990er Jahren und den erstarkenden Rechtsradikalismus
hatte ich intensiv miterlebt, in den Konflikten um die Unterkunft in meinem
Heimatstädtchen Hauzenberg wurde ich in gewisser Weise politisch sozialisiert.
Migration, der Wandel, den sie in Grenzregionen anstößt und die Utopie einer
anderen Welt, die daraus entstehen kann, hatten mich durchs Studium begleitet;
in meiner Dissertation[iii]
vollzog ich die neuen Gemeinschaften, die sich im Zuge dessen bilden können, an
der Meerenge von Gibraltar als „praktizierten Kosmopolitismus“ nach, was mir
die Bedeutung lokalgeschichtlicher, narrativer Ablagerungen[iv] für die
aktuellen sozialen Dynamiken vor Augen führte. Als meine Heimat im Sommer 2015
zu einem der diskursiven Zentren europäischer Migrationspolitik wurde, nahm
deshalb eine persönliche Reise, auf der ich mich seit Jahren befand, eine unerwartete
Wendung. Wie würde eine Gegend, die einen gewissen Stolz auf Eigensinn und
Abgrenzung ausgebildet und mit der Wendung „mia san mia“ belegt hatte, auf die
Bewegung der Migration reagieren? Da ich nicht primär zum Forschen nach Passau
gefahren bin, versuche ich keineswegs, darauf eine ausgearbeitete Antwort zu
liefern. Allerdings kann ich anhand von autoethnographischen Skizzen
Konstellationen umreißen, die zeigen, wie die so genannte „Flüchtlingskrise“ die
Ambivalenzen und Gleichzeitigkeiten eines historisch gewachsenen „Ethos der
Region“ (Lindner 1994)
sichtbar macht und damit zur Kosmopolitisierung gesellschaftlicher Solidarität
beiträgt.
Szenen aus
Niederbayern
Wenn ich zur Abendstunde in meiner
alten Heimat ankomme, schweigt der Bahnhof für gewöhnlich. Zeitungskiosk,
Bäckerei und Fahrkartenschalter sind geschlossen. Passau ist mit etwas mehr als
50.000 Einwohner*innen ein Ort überschaubarer Größe, gelegen an und geprägt von
der deutsch-österreichischen Grenze. An der Burgveste Unterhaus fließen jene
drei Flüsse ineinander, die den Charme „Kleinvenedigs“ ausmachen, zahlreiche
Tourist*innen anlocken und regelmäßig die Innenstadt mit Hochwasser überschwemmen.
Der Wahlspruch des Stadtmarketings lautet: „Grenzenlos lebenswert“, was die
Bedeutung der Grenznähe positiv hervorhebt. In den Jahrzehnten des Kalten
Krieges hatte die Gegend jedoch genau deshalb ein Dasein in der Peripherie
gefristet. Nach dem Bau der Mauer und der Errichtung des Eisernen Vorhangs
grenzte der Landkreis Passau nicht nur entlang seiner Ostseite an Österreich.
Auch die Schlagbäume zur damaligen CSSR lagen nahe, was die Gegend touristisch
und wirtschaftlich relativ uninteressant machte. Erst das Schengen-Abkommen und
die Grenzöffnung der 1980er Jahre sowie die spätere EU-Osterweiterung
veränderten die Marginalisierung der Gegend grundlegend, vom Rande Europas rückte
Passau in seine Mitte. Dass dies mit Migration verbunden ist, erfuhr Passau
bereits im Vorfeld der Wiedervereinigung, als tausende DDR-Geflüchtete die neue
Situation nutzten und über Ungarn in die Dreiflüssestadt einreisten, wo sie in der
damaligen Nibelungenhalle und in Zeltlager-Siedlungen untergebracht und
verpflegt wurden. Passau wurde zu einer Passage. Die so genannte
„Flüchtlingskrise“ des Jahres 2015 rückte den Ort jedoch stärker in den medialen
und politischen Fokus als irgendein Ereignis zuvor, was die „Times“ überschrieb
mit: „Welcome to Germany: sleepy backwater becomes frontier town“[v].
Es ist daher nicht verwunderlich,
dass Bahnhof und Innenstadt im Sommer 2015 weniger ruhig scheinen als sonst. Ich
steige aus dem Zug und finde mich inmitten dunkelblau uniformierter Bundespolizist*innen
wieder, die an den Bahnsteigen stehen und Ausweise kontrollieren, Menschengruppen
zu einem am Ausgang errichteten Zelt eskortieren, die Züge durchforsten – und
dabei nicht fotografiert werden wollen, wie ich im Selbstversuch in Erfahrung
bringe. Die große Zahl von Geflüchteten wird politisch als „Flüchtlingskrise“
wahrgenommen und genau so behandelt: als Ausnahmezustand, der unter Kontrolle
zu bringen ist. Der Brennpunkt, der Anfang Oktober täglich in den nationalen
Medien gezeigt wird, um dies zu illustrieren, ist der Grenzübergang Wegscheid, eine
Gemeinde im nördlichen Zipfel des Landkreises, unweit meines Heimatstädtchens
Hauzenberg. In Wegscheid leben 5500 Menschen, und vermutlich ist es das erste
Mal in der Geschichte der Gemeinde, dass ihr Bürgermeister in allen überregionalen
Abendnachrichten zu Wort kommt. Zu Spitzenzeiten passieren etwa 2000 Menschen
pro Tag die Grenze des kleinen Ortes, was ihn als „Hot Spot“, der entlastet
werden muss, vorübergehend ins Zentrum der europäischen Migrationspolitik rückt
– und des Alltags.
Denn der politische konstatierte
Ausnahmezustand wird maßgeblich ehrenamtlich bearbeitet, und manchmal scheint
es, als sei die Unterstützung von Geflüchteten ein Wesenszug der Gegend. Abseits
der Brennpunkte – im Supermarkt, am Gartenzaun, in Familiendiskussionen – fällt
jedoch immer wieder auf, dass die Frage nach dem angemessenen Umgang mit den
„Fremden“ zentrale Identitätsnarrative, die sich direkt
oder indirekt auf die Eigenarten der Gegend beziehen, herausfordern. Dazu
gehört die Vorstellung eines regional eigenen „Menschenschlages“, wie ihn
die Gemeinde Wegscheid auf ihrer Website beschreibt: „Die z. T. harten
Bedingungen haben im Wegscheider Land einen Menschenschlag geformt, der treu an
seiner Heimat hängt und ihre herbe Schönheit liebt.“[vi]
Wenn es um den Umgang mit Fremden geht, die sich im ländlichen Niederbayern
aufhalten, lassen sich solche regionalen Identitätserzählungen in einfacher und
plausibler Weise mit Haltungen verschränken, die sich gegen Fremde richten.
Alltagsdistanzen
Politisch legte sich das Thema
Migration schwer über den Alltag in den kleinen Orten entlang der Grenze im
Landkreis Passau. Die CSU-geführte Landesregierung trug ihren Teil dazu bei,
indem sie stets versuchte, so schien es mir, Franz Josef Strauß’ Diktum , keiner
demokratischen Partei rechts von ihr Platz zu lassen, gewissenhaft zu erfüllen.
Den Passauer Bundestagsabgeordneten und CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer
zitierte die lokale Tageszeitung mit den Worten: „‚Deutsche Leitkultur
ist viel mehr als das Grundgesetz’. Dazu gehörten ‚unsere Traditionen, unsere
Lebensweise und unsere gemeinsamen Werte’“[vii].
Es seien „gerade die christlichen Werte (...), die unsere Heimat prägen und
zeigen, wo unsere Wurzeln liegen“[viii], führte
der CSU-Landrat Franz Meyer an anderer Stelle aus, und ähnliche Aussagen lassen
sich an verschiedenen Stellen im niederbayerischen Alltag vernehmen – beispielsweise im Sportverein.
Wir befinden uns in einer der
wenigen Hallen in der Umgebung, in der weiterhin trainiert wird, viele wurden zu
Notunterkünften umgewidmet. Beinahe unvermeidlich fällt das Gespräch an
irgendeinem Punkt auf die Frage nach dem angemessenen Umgang mit den Migrationsbewegungen,
und so gut wie alle Anwesenden können Anekdoten erzählen, die die Irritationen
der persönlichen Begegnung mit jenen Menschen beschreiben, die als Geflüchtete
im Landkreis Passau ankommen. Der Imagination einer lokalen Gemeinschaft, die
in der Formel „mia san mia“ ihren Ausdruck findet, kommt dabei – in ihren
verschiedenen Spielarten – eine zentrale Rolle zu. Sie dient der Konstruktion
von kultureller und religiöser Differenz und als Legitimation für Ausschluss. Mit
dieser Logik bin ich seit meiner Kindheit vertraut. Mit ihr wird mein aus der
Pfalz stammender Vater, nach etwa 40 Jahren in Bayern immer wieder im Spaß oder
im Ernst zum außenstehenden „Preußen“ degradiert; sie ist es, die mitschwingt,
wenn ein Bekannter, als Gastarbeiter in den 1960er Jahren von Italien nach
Deutschland gekommen, noch heute mit dem Spitznamen „Itaker“ gerufen wird; und
sie ist daran beteiligt, wenn sich die in Deutschland aufgewachsenen, aber aus
dem Kosovo stammenden Nachbarskinder lieber mit albanischen Jugendlichen, die
ähnliche Erfahrungen wie sie gemacht haben, umgeben als mit deutschen. Auf
diese Weise verbirgt die „mia san mia“-Rhetorik, seit ich sie kenne, kulturalistische
Abwehrreflexe oder auch rassistische Stereotype hinter einem lokal vorhandenen,
bekannten Identitätsnarrativ, das sie zu normalisieren und als sozial
unproblematisch zu entwerfen hilft. Dazu greift sie auf die Vorstellung zurück,
gesellschaftliche Solidarität gelinge am besten unter Bedingungen kultureller
Nähe (vgl. Bayertz 1998), was nicht nur die politische Kontrolle von Grenzziehungen
nahelegt, um unter Bedingungen von Migration ein funktionierendes Zusammenleben
zu ermöglichen. Ein „Wir“ der Gleichen mit dem Verweis auf die „Anderen“ mit
„ihrer“ Lebensweise, „ihrer“ Kultur etc. zu entwerfen, ist aktiv an der (Re-)Produktion
von Differenz und der Legitimation von Exklusion beteiligt. Das Narrativ einer
regionalen Eigenart droht mit den essentialistischen Positionen der Neuen
Rechten zu paktieren. Unter dem Vorzeichen von „Abstammungsgemeinschaften“
(vgl. Lindner 1994, 202) und mit Begriffen wie „Ethnopluralismus“ wird gegen
nationale, kulturelle, religiöse und potentiell gefährliche Andere mobil zu
machen versucht.
Die „Krise des Grenzregimes“ und
die Auseinandersetzungen um eine Politik der offenen bzw. geschlossenen
europäischen Grenzen mobilisieren aber nicht nur jene „historisch gesättigten
Vorstellungen“ (Lindner, zit. nach Schweiger 2010, 253) des Eigenen, die sich gegen
Zuwanderung wenden lassen, weil sie die vermeintliche Bedrohung des Status Quo
durch Fremde kritisieren. Diese Krise mobilisert auch die auf den ersten Blick
weitgehend unsichtbaren Genealogien, die das „regionale Imaginäre“ (ebd.)
ausmachen. Folge dessen ist, dass das kulturelle bzw. religiöse „Wir“ als
unmarkierte Seite einer Unterscheidung zwischen Geflüchteten und Einheimischen
nicht nur neue Bedeutung und Plausibilität gewinnt, sondern gleichzeitig seine
vermeintliche Fraglosigkeit verliert. Denn im Kontext einer wahrgenommenen
„Flüchtlingskrise“ und den zwischenmenschlichen Begegnungen, die daraus
hervorgehen, treten die verflechtungsgeschichtlich angelegten Ambivalenzen des
regionalen „Ethos“ (ebd.) zu Tage. Deutlicher als in meinen beschriebenen
Kindheitserinnerungen beobachtete ich im Sommer 2015, dass die identitären
Rückzüge auf ein regionales „Wir“ keineswegs humanitäre Positionen und
Hilfsbereitschaft ausschließen, sondern sich in vielfältiger und komplexer
Weise mit ihnen überlagern. Die unausweichlichen Begegnungen mit dem Thema
Migration im Alltag führen vor Augen, wie die Imagination einer homogenen, lokalen
Abstammungsgemeinschaft, die von den globalen Entgrenzungen unberührt bleiben
könnte, von innen aufbricht.
Geschichten der
Hilfsbereitschaft
Fragt man die zahlreichen, zum Teil
unermüdlich wirkenden Helfer*innen, warum sie sich engagieren, nennen sie christliche
Nächstenliebe, humanistische Vorstellungen vom Recht auf Menschenrechte oder
eine Kritik gegenüber dem politischen Grenzregime bzw. der anti- migrantischen
Rhetorik rechtspopulistischer Gruppen als Gründe. Doch auch sie müssen im
lokalen Kontext gelesen werden, was zur Erzählung jenes „Wir“ zurückführt, das
auf den ersten Blick der Abgrenzung der Einheimischen von den geflüchteten
Anderen dient. In der Praxis der Geflüchtetenunterstützung – also in der
menschlichen Begegnung, dem gegenseitigen Austausch und dem Aushandeln der
dabei unvermeidlichen Konflikte – entstehen Bündnisse, die ebenfalls die lokale
Identität des „mia san mia“ zentral stellt, sich damit aber gegen unterschiedliche
Politiken der Diskriminierung von Schutzsuchenden positioniert. Der im Nachbarlandkreis
Freyung-Grafenau entstandene Zusammenschluss „Da Woid is bunt“ (Der Wald ist
bunt) trägt dieses Selbstverständnis im Namen. Es steht, so heißt es in seiner
Agenda,
„...für einen offenen
Bayerischen Wald, in dem Fremde, Minderheiten und Migranten genauso dahoam sein
können, wie diejenigen, die seit Generationen zwischen Passau und Cham leben.“[ix]
Indem Gruppen wie „Da Woid is bunt“
die Anwesenheit von Menschen, die nicht in die Idee einer lokalen Gemeinschaft
der Gleichen passen, in die Imagination sozialer Vergemeinschaftung „im Wald“ aufnehmen,
legen sie die Spur zu einer widerborstigen lokalen Genealogie des „mia san
mia“-Motivs.
Die neue Welt
Als „neue Welt“ wird im Volksmund
die Gegend von Breitenberg im östlichen Landkreis Passau bezeichnet. Wenn es auch
auf den ersten Blick nicht unmittelbar mit den Diskussionen um Geflüchtete zu
tun hat, eignet es sich doch, um die Vorstellung eines regional typischen
„Menschenschlages“ mit einer weiteren, im Kontext Migration ebenfalls
wirkmächtigen Dimension des „mia san mia“ zu ergänzen.
Darauf aufmerksam wurde ich durch
einen Zufall. Kurz vor dem „langen Sommer der Migration“ fand meine Mutter heraus,
dass ihr längst verstorbener Onkel kurz vor dem Zweiten Weltkrieg in einem lokal
verbreiteten Heftchen über Breitenberg die Geschichte der „Neuen Welt“ (Gruber 1930)
beschrieben hatte. Er führte die Bezeichnung auf den Passauer Fürstbischof Wenzeslaus Graf von Thun zurück, der die
Region im 17. Jahrhundert aus finanziellen Gründen in seinen politischen
Einflussbereich aufnahm. Weil die Gegend bis dahin Urwald gewesen sei, gab der
Fürstbischof den Auftrag, die Gegend zu „kolonisieren“ und landwirtschaftlich
nutzbar zu machen. Es liegt nahe, dass jene „unzivilisierte“ „Neue Welt“ aber
keineswegs unerschlossen war. Denn vom 14. bis zum 17. Jahrhundert diente Breitenberg
als Transitregion für den internationalen Ochsenhandel, der die Weideflächen in
Südosteuropa über den „Ungarnsteig“ mit den urbanen Zentren Süddeutschlands und
entlang des Rheins verband[1]. Der
Nürnberger Heimatforscher Wolfgang von Stromer beschreibt in einem Artikel
namens „Wildwest in Europa“ (Stromer 1979),
wie der Viehhandel die Menschen entlang der Route entweder in die Armut trieb,
weil ihre Felder und Wiesen zertrampelt wurden, oder ihnen zu Reichtum verhalf,
wenn sie sich darauf einstellten und z.B. Futter verkauften. „Wildwest“ deutet aber
ebenfalls an, dass mit der Errichtung kontrollierter Grenzen auch die
Entstehung grenzüberschreitender Praktiken verbunden waren. So änderten sich die
Handelswege und ihre Nutzung zwar im Verlaufe der Geschichte immer wieder, sie
verschwanden jedoch selbst dann nicht mehr, wenn die Grenzen aus politischen
Gründen geschlossen wurden. Stromer führt aus, dass sie in den 250 Jahre
dauernden Kriegen gegen das Osmanische Reich und sogar nach der Errichtung des
Eisernen Vorhangs intakt blieben – aus legalem Handel wurde Schmuggel. Die
Jahrhunderte alten Handelswege und die Versuche, sie politisch unter Kontrolle
zu bringen, sind nicht nur die historischen Fundamente für die Routen der
Migration, die aus dem Balkan in die deutschen und europäischen Zentren führen,
sondern auch die verschwiegenen identitären Grundlagen einer Region, die seit
Jahrhunderten gleichermaßen Grenz- wie Transitzone ist. Wie tief diese
Identitäten in der Region verankert sind, zeigen die vor einigen Jahren
eröffneten Wanderwege, die die Passauer Grenzregionen auf den alten „Schmugglerpfaden“
mit den Gebieten in Österreich und Tschechien verbinden. Auf der Projektwebsite
wird ein Beitrag der Volkskundlerin Elisabeth Schiffkorn zitiert, in dem sie verschiedene
Beispiele der Schmuggel-Praxis beschreibt. Erst mit der EU-Europäisierung seien
die Aktivitäten an der grünen Grenze zurückgegangen[x].
Die gesellschaftliche
Auseinandersetzung um die Geflüchtetenbewegungen im Sommer 2015 aktualisierte daher
die bis dahin im Kontext Migration wenig beachtete Geschichte einer Region, zu
derem „regionalen Ethos“ das Unterlaufen und Überschreiten politisch gezogener
Grenzen ebenso gehören wie die identitäre Abgrenzung nach außen. Insoweit führen
die kontrovers geführten Debatten über das Eigene und das Fremde in einem
Moment der gefühlten Krise und ihre Ambivalenzen unmittelbar in die
vielschichtigen lokalhistorischen Sedimente, auf die sich die Bevölkerung
berufen kann, wenn sie sich mit den Geflüchteten gegen bayerische, nationale oder
europäische Grenzpolitiken solidarisiert und Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit
bzw. Rechtspopulismus kritisiert. Die Gruppe „Da Woid is bunt“ illustriert
diese Gleichzeitigkeit (bewusst oder unbewusst), indem sie den Rückgriff auf den
Wald als regionale Identität mit der Positionierung gegen jene „Ewiggestrigen, die
mit ihren immer gleichen dumpf-dummen und angstgetriebenen
Stammtischparolen Stimmung machen wollen gegen Menschen, deren Schicksale sie
nicht kennen“[xi] verbindet.
Sich mit Menschen, „deren Schicksal man nicht kennt“ (ebd.) unter dieser Prämisse
zu solidarisieren, aktualisiert lokalhistorische Identitätsnarrative aber nicht
nur, sondern verändert sie auch.
Die
Kosmopolitisierung des „mia“
In einer Familie, die in einem
kleinen Ort im Landkreis Passau lebt, gab es Streitigkeiten zwischen Vater und
Tochter. Die Tochter – eine Freundin von mir, die ebenfalls dem Sommer der
Migration in die Heimat gefolgt war – freundete sich im Zuge des Engagements für
Geflüchtete mit einem Syrer an. In welcher Beziehung die beiden zueinander
standen, ist mir nicht bekannt, jedenfalls brachte sie ihn gegen den Willen des
Vaters mit in ihr Elternhaus und stellte ihn vor. Überraschenderweise entstand
zwischen dem Geflüchteten und dem Vater ein reger Austausch. So kam es, dass der
Syrer auf einem kleinen See in der Nähe von Hauzenberg die lokale Variante des Eisstockschießens
erlernte und Teil einer Gruppe wurde, die in ähnlich prägnanter Weise für Ausdruck
Bayerischer Tradition gesehen werden kann wie ein Trachtenverein. Der Vater hingegen
lernte den Alltag, die Imaginationen und die Sorgen von Geflüchteten kennen und
damit auch die Widersprüche, die die europäische Migrationspolitik auf
individueller Ebene produziert. Solche Entwicklungen deuten die unaufhaltsame
Transformation jener Imagination an, die im geflügelten Wort des „mia san mia“
ihren Ausdruck findet: in der sozialen Praxis des Alltags, in Folge der
Begegnungen zwischen Menschen, die sich sonst fremd geblieben wären, und den
Auseinandersetzungen, die sie unweigerlich nach sich ziehen.
Meine (auto-)ethnographischen
Skizzen und die daran anschließenden Überlegungen nehmen weder in Anspruch,
diese Auseinandersetzungen umfassend darzustellen, noch, sie en detail zu interpretieren. Einen
Einblick in die Logik der sozialen Dynamiken, die den Landkreis Passau im
langen Sommer der Migration beherrschten, können sie jedoch durchaus geben. Zum
einen, weil sie die Gleichzeitigkeit von Unterstützung und Abgrenzung
demonstrieren, die charakteristisch für die aktuellen Diskussionen um Migration
ist. Zum anderen thematisieren sie die Wirkmächtigkeit eines „Ethos der Region“
im Kontext Flucht, was für gewöhnlich zu Gunsten anderer Perspektiven
ausgeblendet wird. Dabei sind es gerade die lokalhistorischen Sedimente, die
die Spuren für ein gelingendes zukünftiges Zusammenleben legen. Im Landkreis
Passau stellen sie den politisch sicht- und auch im Alltag spürbaren Tendenzen,
„mia san mia“ gegen Geflüchtete in Stellung zu bringen, eine widerständige, aus
der Praxis der Grenzüberschreitung hervorgehende Genealogie des Narrativs
gegenüber.
Darin wiederum liegt der Samen
einer politischen Vision, die es für die Gestaltung des Zusammenlebens in der
Migrationsgesellschaft dringend braucht. Sie steht im Mittelpunkt einer kulturanthropologischen
Kosmopolitismusforschung, die nicht nur nachzuvollziehen versucht, wie die
innere Globalisierung die Grenzen politischer Vergemeinschaftung aufbricht,
sondern auch nach den Konsequenzen für Gemeinsinn und gesellschaftlichen
Zusammenhalt fragt (vgl. Römhild und Westrich 2013). Als Ausgangspunkt wählt sie
eine ethnographische „Perspektive der Migration“, die der eigenen
Involviertheit und den Irritationen des forschenden Blicks – auch unter Einsatz
künstlerischer bzw. filmischer Mittel – folgt, um im Alltag der „Kosmopolitisierung“
nach „kosmopolitischen Praktiken“ (Römhild 2007)
zu fahnden. Gleichzeitig entwirft sie damit die Umrisse eines aus der sozialen
Praxis hervorgehenden Kosmopolitismus-Begriffs, der dazu in der Lage ist, bei
der Neuausrichtung der europäischen Idee Pate zu stehen. Ganz in diesem Sinne
enden auch die kursorischen Ausführungen über das „mia san mia“ im Landkreis
Passau mit einem Funken Utopie.
Nachdem ich in den nationalen
Medien Berichte über meine alte Heimat gesehen und mich dorthin begeben hatte,
traf es mich nicht unerwartet, dass viele Menschen mit Angst und Abwehrreflexen
reagierten, als plötzlich hunderte Geflüchtete täglich in der Region ankamen. Doch
gleichzeitig wurde ich Zeuge solidarischer Momente, die aus der Logik lokaler
Identitätsnarrative entstanden, sie aber im Kontext Migration aktualisierten
und damit veränderten. Den Blick für sie zu schärfen und sie gezielt zu
unterstützen, scheint mir die Voraussetzung zu sein für die Konstitution einer
kosmopolitisch erneuerten „imagined community“ (Andersson), die eine inklusive
Gesellschaft vorantreibt, ohne sich in die nationalen Untiefen der Rede von der
Integration zu begeben. In den Worten eines Konzertplakats, das den
ehrenamtlichen Helfer*innen gewidmet war, ließe sich im lokalen Duktus als
Wegmarke formulieren: „Mia san ned nur mia“ („wir sind nicht nur wir“).
Vorausgesetzt, das Ziel besteht darin, die Negation durchzuhalten und sie damit
loszuwerden.
Literaturverzeichnis
Bayertz,
Kurt (1998): Begriff und Problem der Solidarität. In: Kurt Bayertz (Hg.): Solidarität.
Begriff und Problem. Frankfurt am Main, 11-53.
Gruber, Alois (1930): Die Neue Welt. Breitenberg.
Lindner, Rolf (1994): Das Ethos der Region. In: Rolf
Lindner (Hg.): Die Wiederkehr des Regionalen: Über neue Formen kultureller
Identität. Frankfurt a.M., 201-231.
Römhild, Regina (2007): Alte Träume, neue Praktiken:
Migration und Kosmopolitismus an den Grenzen Europas. In: Transit Migration
Forschungsgruppe (Hg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an
den Grenzen Europas. Bielefeld, 211-228.
Römhild, Regina, Michael Westrich (2013): Kosmopolitismus
an der Grenze: Der Mittelmeerraum als Laboratorium für transversalen Gemeinsinn.
In: Zeitschrift für
Kulturwissenschaften.
Schweiger, Tobias (2010): Räuber, Raufer, Dickschädel.
Zur kumulativen Textur des Innviertels. In: Beate Binder, Moritz Ege, Anja
Schwanhäußer, Jens Wietschorke (Hg.): Orte - Situationen - Atmosphären.
Kulturanalytische Skizzen. Frankfurt a.M./New York, 247-259.
Stromer, Wolfgang von (1979): Wildwest in Europa. Der
transkontinentale Ochsenhandel in der frühen Neuzeit. In: Kultur und Technik 3 (2), 36-43.
Endnotes
[1] Auch interkontinental genannt, da die Ochsen
von dem Kumanen aus der eurasischen Steppe nach Ungarn gelangt waren, vgl. dazu
Stromer (1979)
[i] http://www.zeit.de/2015/32/fluechtlinge-bayern-passau,
aufgerufen am 01.04.2016
[ii] zuerst
so benannt von Kasparek und Speer, http://bordermonitoring.eu/ungarn/2015/09/of-hope/,
aufgerufen am 01.04.2016
[iii]
unveröffentlicht, https://www.euroethno.hu-berlin.de/de/forschung/labore/europaeisierungsforschung,
aufgerufen am 26.04.2016
[iv] Schweiger
(2010) spricht von „kumulativen Texturen“
[v] http://www.thetimes.co.uk/tto/news/world/europe/article4534531.ece,
aufgerufen am 01.04.2016
[vi] http://www.wegscheid.de/gemeinde/geschichte.html,
aufgerufen am 01.04.2016
[vii] http://www.pnp.de/region_und_lokal/stadt_und_landkreis_passau/passau_stadt/
1829343_Scheuer-Fluechtlinge-muessen-deutsche-Leitkultur-anerkennen.html,
aufgerufen am 29.03.2016
[viii] In
einer Rede vor den Maltesern, online einsehbar unter http://www.landkreis-passau.de/Presse/RedendesLandrats/2016.aspx,
aufgerufen am 29.03.2016
[ix] Zitat
aus der Selbstbeschreibung auf Facebook, https://www.facebook.com/dawoidisbunt/,
aufgerufen am 01.04.2016
[x] http://www.schmuggler.at/Volkskundetagung.htm,
aufgerufen am 01.04.2016
[xi] https://www.facebook.com/dawoidisbunt/,
aufgerufen am 01.04.2016
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Flavia Alice Mameli / Josefine Londorf Sarkez / Anne Van Wetteren (2016): Sensing Tempelhofer Freiheit. In: Gökce Yurdakul, Regina Römhild, Anja Schwanhäußer, Birgit zur Nieden, Aleksandra Lakic, Serhat Karakayali (Hg.): E-Book Project of Humboldt-University Students: Witnessing the Transition: Refugees, Asylum-Seekers and Migrants in Transnational Perspective. Preview (Weblog), https://www.blogger.com/blogger.g?blogID=863130166696833325#editor/target=post;postID=3697950972162993466;onPublishedMenu=allposts;onClosedMenu=allposts;postNum=0;src=link
Flavia Alice Mameli / Josefine Londorf Sarkez / Anne Van Wetteren (2016): Sensing Tempelhofer Freiheit. In: Gökce Yurdakul, Regina Römhild, Anja Schwanhäußer, Birgit zur Nieden, Aleksandra Lakic, Serhat Karakayali (Hg.): E-Book Project of Humboldt-University Students: Witnessing the Transition: Refugees, Asylum-Seekers and Migrants in Transnational Perspective. Preview (Weblog), https://www.blogger.com/blogger.g?blogID=863130166696833325#editor/target=post;postID=3697950972162993466;onPublishedMenu=allposts;onClosedMenu=allposts;postNum=0;src=link
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