Freitag, 24. Juni 2016

"Refugees Welcome" in Berliner Wohngemeinschaften. Konvivialität und Ungleichheit



Von Leoni Johanne Meyer

Der folgende Artikel untersucht die Verknüpfung von Willkommenskultur und Ungleichheit im Kontext der aktuellen Fluchtbewegungen nach Europa. Dabei werden Studienergebnisse meiner dreimonatigen Feldforschung in Berliner Wohngemeinschaften (WGs), in denen weiße Studierende schwarze Geflüchtete aufnehmen, präsentiert und analysiert. Im Fokus der Untersuchung stehen die kolonialen Wissensformationen der Aufnehmenden, die inmitten der sich als tolerant und weltoffen artikulierten Willkommenskultur Ungleichheitsverhältnisse herstellen. Die dabei entstehenden Beziehungen werden mit dem Konzept der Konvivialität untersucht und gezeigt, inwiefern das Zusammenleben nicht von den Machstrukturen derer trennbar ist, die im Kollektiv involviert sind. Somit wird auf einen wichtigen Aspekt hingewiesen, der in  vielen Analysen über die soziale wie gesellschaftliche Situation von und mit Geflüchteten vernachlässigt wird oder ganz unsichtbar bleibt: die Rolle von Ungleichheit.

1. Ungleichheit in der Willkommenskultur
Rassismus und Willkommenskultur gehören im Kontext der so genannten Flüchtlingskrise wahrscheinlich zu den meist genannten Begrifflichkeiten in gesellschaftlichen und politischen Debatten wie auch in den deutschen Medien. Dabei werden sie als zwei völlig voneinander getrennte Phänomene wahrgenommen: „Rassistisch“ zeigten sich insbesondere „Dunkeldeutsche“ (Die Welt vom 26.8.2015) durch körperliche Gewalt, Hetze und Übergriffe auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte. Als „rassistisch“ werden von linkspolitischen Gruppen aber auch jene Gesetzesänderungen benannt, die die Rechte von Geflüchteten weiter einschränken und ihre bereits prekären Lebenssituationen in Deutschland weiter verdrängen. Die „Willkommenskultur“ versucht wiederum Aussagen und Praktiken der deutschen Bevölkerung zu betonen, die sich gegenüber Geflüchteten solidarisch und hilfsbereit zeigen, auf die Gleichheit der Menschen verweisen und Ausgrenzungen mit Gesten des Willkommens-Seins und der Anerkennung entgegen wirken wollen (IQ 2014). Die Anzahl der Willkommens-Initiativen ist groß und wächst stetig an. Initiativen wie von linken Politgruppen organisierte Schlafplatzorgas setzen sich bereits seit einigen Jahren für das Recht von Geflüchteten auf privaten Wohnraum ein und unterstützen ihre politischen Kämpfe, indem sie unabhängig von Status und Herkunft temporär private Unterkünfte organisieren. Zwar stellen diejenigen, die eine geflüchtete Person aufnehmen, relevante materielle, soziale wie kulturelle Ressourcen zur Verfügung, dennoch bleibt die gemeinsame Wohnsituation nicht frei von Konflikten: Denn trotz Bemühungen, fernab der ungleichen gesellschaftlichen Positionen ein Zusammenleben ‚auf Augenhöhe’ umzusetzen, produzieren die in den WGs oft entstehenden Konstellationen aus weißen[1] Deutschen und nicht-weißen Geflüchteten inmitten des Anspruchs auf Gleichheit soziale Trennlinien zwischen selbsterkorenen Helfenden und passiven Hilfsbedürftigen, Gebenden und (An-)Nehmenden; eine Dynamik, die das Zusammenleben auf Augenhöhe herausfordert und die gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnisse auf engstem Raum wirkmächtig macht. Am Beispiel der Aufnahme von Geflüchteten in Wohngemeinschaften beleuchtet dieser Beitrag die Manifestation und Reproduktion von Ungleichheit in der Willkommenskultur und analysiert darin asymmetrische Beziehungsmuster. Das empirische Material basiert auf einer Feldforschung, die ich von Februar bis März 2015 durchgeführt habe.[2] Diese Analyse soll zur kritischen Auseinandersetzung über Machtstrukturen und Formen des Zusammenlebens auf Augenhöhe anregen, um schließlich weiter über die Möglichkeiten der Solidarität zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheit nachzudenken und zu diskutieren.

2. Conviviality – just living together?
Seit einigen Jahren taucht das Konzept der Konvivialität zunehmend in wissenschaftlichen Debatten zur Untersuchung des Zusammenlebens auf (Adloff/Leggewie 2014; Nowicka/Vertovec 2014). Als Analysewerkzeug wird der Begriff unter anderem verwendet, um sich tiefergreifend mit der Condition humaine und verschiedenen Vorstellungen des Miteinanders in migrationsgeprägten Gesellschaften auseinanderzusetzen.
Im Mittelpunkt der Analysen steht die Frage „Wie können bzw. sollen wir zusammenleben?“ Dies soll anhand sozialer Aushandlungsprozesse und der darin aufkommenden spezifischen Qualitäten sozialer Beziehungen im Verhältnis zu ihren orts- und zeitgebundenen kontextuellen Entstehungsbedingungen, wie die individuellen Einstellungen, öffentlichen Diskursen, institutionellen Rahmenbedingungen oder auch materiellen Umwelten, untersucht werden.
Der britische Soziologe und Kulturwissenschaftler Paul Gilroy betrachtet Konvivialität als einen Perspektivwechsel, der jene Prozesse des Zusammenlebens anerkennt, die „Multikultur“ als alltäglichen Aspekt des sozialen Lebens einschließt (Gilroy 2004, xi). Diese Perspektive kritisiert die imperialen Politiken Großbritanniens bzw. Europas, die im Zuge der Multikulturalismus-Debatten nationengebundene Vorstellungen von Gesellschaften verbreiten und kulturelle Unterschiede als Aspekt des Konflikts zwischen starren und nicht zu vereinbaren Zivilisationen darstellen. Kultur wird dabei als exklusives nationales Phänomen homogenisiert, instrumentalisiert und pauschalisiert (ebd., I). Mit Vorstellungen von einem „Wir und die Anderen“ im Sinne eines „The West and The Rest“ (Hall 1996) erhebt das nationale Kollektiv im Kern den Anspruch, dass sich Menschen aus anderen (nationalen) Gruppierungen, die homogen imaginierten Ritualen, Normen, Werten anerkennen und sich ihnen anpassen müssten. Dieser Prozess etabliert unvermeidlich Ausgrenzungsmechanismen entlang rassistischer Hierarchisierungen, in der Mensch-Sein nicht genug ist, um sich für Anerkennung zu qualifizieren (Gilroy 2006). Fernab solcher Debatten werde jedoch in urbanen Räumen ein Zusammenleben jenseits rassistischer, sprachlicher und religiöser Differenzannahmen praktiziert, so Gilroy, und Dissenz beispielsweise über Geschmack, Lifestyle oder Freizeitgestaltungen in Echtzeit ausgehandelt. Dies zeige, dass Differenzen ad hoc konstruiert würden (Gilroy 2004, 39f.) und neben Rassismus eine alternative Untersuchung sozialer Beziehungen in diversitätsgeprägten Räumen möglich sei. Zwar blieben Hierarchien weiterhin bestehen, jedoch könne durch Konvivialität als Analyseperspektive der Kontakt und die Auseinandersetzung zwischen ungleichen Positionen als Momente des spontanen, unsichtbaren und teils ungewollten „undoing of racism” (Gilroy 2006, 7) analysiert werden.
Um das gesellschaftliche Zusammenleben auf Augenhöhe – also konvivial – zu gestalten,  brauche es, laut Gilroy, eine Veränderung der Politik: „I don’t want to call it multiculturalism; I want to call it conviviality – just living together(ebd.). Darin fordert er eine „radikale Öffnung“ zur Neuaushandlung festgelegter Prinzipien und Werte des Zusammenlebens. Dieser Aushandlungsprozess fordere direkte Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Perspektiven und Positionen, denn nur so könne man der immer schon dagewesenen Realität unterschiedlicher Denk-, Lebens- und Handlungsweisen, die Konflikte mit einschließt, gerecht werden.
In Bezug auf interpersonelle Beziehungen basiert ein konviviales Zusammenleben auf den Logiken der Gabe nach Marcel ([1924] 1978). Der Zyklus des Gebens, Nehmens und Erwiderns bewegt sich dabei im Spannungsverhältnis zwischen sozialer Verpflichtung und Spontaneität, zwischen Eigennützigkeit und Freundschaftlichkeit. Kann eine Gabe nicht erwidert werden, führt das zwischen den Handelnden zu Abhängigkeitsverhältnissen. Ein Zusammenleben auf Augenhöhe erziele jedoch eine Anerkennung, in der sich „niemand [...] zum alleinigen Geber aufschwingt, sondern sich die Positionen des Gebens und Nehmens gegenseitig abwechseln“ (Adloff/Leggewie 2014, 27). Diese Überlegung greift auch Gilroys Idee der „radikalen Offenheit“ sowie die des „Pluriversalismus“ des französischen Soziologen Alain Caillé auf: Ein „Gleichheitsrecht der Kulturen und gleichzeitig das Recht, sich radikal voneinander zu unterscheiden“ (ebd., 26). Sie stellen sich Konvivialität als Prozess vor, der die Verflechtung zwischen der Gabe und ungleichen Machtverhältnissen ausbalanciert. Soziale Grenzen werden durch Dekonstruktion symbolischer Grenzen aufgebrochen bzw. verschoben.
Konvivialität wird nun in einem Feld angewandt, das in hoch brisanten gesellschaftlichen wie politischen Debatten eingebettet ist: Im Bereich der so genannten Willkommenskultur als Reaktion auf derzeitige Fluchtbewegungen, die dadurch ausgelösten restriktiven Politiken, rassistische Mobilisierung und gleichzeitig der politischen und sozialen Kämpfe der Geflüchteten selbst. Dabei gilt zu betonen, dass auch eine antirassistisch motivierte Forschung sich ihrem sozialen Kontext nicht entzieht. Forschungen über bzw. mit Geflüchteten gilt es prinzipiell zu problematisieren, denn ihr ist ein Machtverhältnis immanent, das durch Reflexion nicht einfach aufgehoben werden kann (Kleist 2015). Aus Perspektive der Geflüchteten kann diese Forschung nicht schreiben. Was diese Forschung kann, ist aus Perspektive der weißen, links positionierten Forscherin (und als solche in der Feldforschung wahrgenommene) jene Stimmen aus dem Feld zu reflektieren, die seitens der nicht-geflüchteten Aufnehmenden die Qualität des Zusammenlebens prägen. Dabei ist wichtig zu betonen, dass die Geflüchteten die hier aufgeführten Wissensformationen irritieren und verändern. Hier steht jedoch der implizite und durchaus wirksame Machtanspruch der Aufnehmenden im Fokus. Es soll auf einen sehr wichtigen Aspekt im Feld der gegenwärtig verfochtenen Willkommenskultur hinweisen, der in vielen Analysen über die sozialen wie gesellschaftlichen Situationen von und mit Geflüchteten vernachlässigt wird oder ganz unsichtbar bleibt: die Rolle von Ungleichheit.

3. Machtungleichheiten im postkolonialen Raum

3.1. „Wir“ und „der Flüchtling“
Amir K., Bedir O. und Immanuel B. sind die aufgenommenen Geflüchteten in den untersuchten WGs in Berlin. Sie sind Anfang 30 und übten in ihren Herkunftsländern unterschiedliche Berufe unter prekären Bedingungen aus. Seitdem sie ihren Wohnort, ihre Freundes- und Familienkreise verließen, sind sie seit mehreren Jahren in verschiedenen Ländern meist allein unterwegs, bauen soziale Netze auf, versuchen den Kontakt zur Familie aufrechtzuerhalten und sind permanent mit dem Organisieren finanzieller Mittel für die Weiterreise und das Überleben beschäftigt. Immer wieder treffen sie dabei auf europäische Grenzen, durch die sie in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind, die ihnen Arbeitsverbote erteilen und permanent versuchen, sie auf ihren Wegen zu kontrollieren:
„Europa ist Feuer. Als ich in Afrika war, dachte ich, hier gibt es Gleichheit. Ich wusste nicht, dass alle fragen: ‚Du kommst nicht aus Europa?’ Ich wusste nicht, dass es diese Kontrollen gibt“ (Interview mit Amir K. vom 03.04.2015).
Amir K. kommt aus dem Niger, floh vor vier Jahren über das Mittelmeer nach Italien und befindet sich seit zwei Jahren in Deutschlands Asylverfahren. Bedir O. kommt aus dem Tschad, floh vor neun Jahren nach Europa und hält sich derzeit ohne Papiere in Berlin auf. Immanuel B. kommt aus dem Sudan, flüchtete vor drei Jahren nach Europa und besitzt derzeit keinen legalen Aufenthaltsstatus. Ende 2014 wurden sie in unterschiedlichen WGs temporär aufgenommen, nachdem sie als Teilnehmende an der Geflüchtetenbewegung am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg lebten (vgl. Wickert/Lambert 2015).
Die Aufnehmenden, Miriam T., Elsa U. und Jonas K. leben zusammen mit Amir K. in einer WG im Friedrichshain. Lara M. und Mira S. leben mit Bedir O. in Mitte und Lena S. mit drei weiteren Mitbewohnern und Immanuel B. in Kreuzberg. Die Aufnehmenden positionieren sich als linksorientierte Studierende und Studierte zwischen 25 und 30 Jahren. Alle seien politisch interessiert, jedoch unterschiedlich aktiv: Lena S. und ihre Mitbewohner unterstützen regelmäßig politisch motivierte Gruppen, Miriam T., Jonas K., Lara M. und Mira S. nehmen gelegentlich an Demonstrationen teil.
Die Aufnehmenden betonen, dass sie sich innerhalb der kontrovers geführten Debatten um aktuelle Fluchtbewegungen solidarisch und hilfsbereit zeigen wollen, indem sie Geflüchtete nicht ausgrenzen, sondern inmitten ihres privaten Zusammenlebens aufnehmen. Um die darin präsenten ungleichen gesellschaftlichen Positionen weitestgehend zu überbrücken, organisieren sie die (Teil-)Finanzierung des Zimmers,[3] gemeinsame Aktivitäten wie Einkaufen, Kochen und Essen sowie Zeit für die Unterstützung des Geflüchteten beim Deutschlernen, in rechtlichen Fragen oder auch beim Finden eines Jobs. Neben neuen organisatorischen Aspekten, ziehen nun auch neue Perspektiven auf Themen wie Flucht, Asyl, Sprache und Arbeitsverbot in die WGs. Für Jonas K. aus der WG in Friedrichshain war es „irgendwann auch anstrengend immer über seine Geschichte zu reden und [...] dass Amir so viel Aufmerksamkeit bekommt“ (Interview mit Jonas K. vom 06.04.2015). Trotz Bemühungen, einen gemeinsamen WG-Alltag aufzubauen, sind diese gleichzeitig mit Anstrengungen verbunden. So zeigen sich ungleiche Machtstrukturen von vornherein als wirksam:
„Allein, dass Immanuel umsonst und temporär – quasi als Gast – bei uns wohnte, schwang die ganze Zeit in der Interaktion mit. Das war vor allem dann klar, wenn wir Nicht-Geflüchteten von ‚wir’ gesprochen haben und ihn damit nicht meinten“ (Interview mit Lena S. vom 12.05.2015).
Hier deutet sich an, dass die von Amir K. genannten Kontrollen bzw. Grenzen auch in die WG-Struktur einwirken. Dabei spielt die gesellschaftliche Figur des Flüchtlings immer wieder eine Rolle, die nicht unproblematisch ist: „Der Flüchtling“ steht dann wieder dem „Wir“ der WG gegenüber, das über das Sprachliche Trennlinien faktisch ausdrückt und Gleichheit erschwert.
Des Weiteren zeigt sich, dass das zur Verfügung stehende Zimmer zwar den Einzug der Geflüchteten ermöglicht, gleichzeitig aber bereits im Vorhinein festgelegt wird, wie sich das Zusammenleben gestaltet und welche Rolle der Geflüchtete darin einnehmen kann:
„Insgesamt basiert das Zusammenleben auf einer krassen Machtstruktur: Wir waren diejenigen, die ihm gesagt hatten, er kann vorübergehend bei uns wohnen. Wir waren auch diejenigen, die bestimmten, wann dieses ‚vorübergehend’ vorüber gehen soll. [...] Immanuel hat und hätte uns, glaube ich, niemals gebeten, etwas an dem Zusammenleben in der WG zu verändern“ (Interview mit Lena S. vom 12.05.2015).
Die Bereitschaft zur (Neu-)Aushandlung festgelegter Normen ist ein wichtiger Bestandteil von Konvivialität. In Anlehnung an den Soziologen Peter M. Blau (2005) wird hier jedoch eine spezifische Manifestierung von Machtungleichheit sichtbar, die den WG-internen Aushandlungsprozess erschwert: Das einseitige Geben versucht zum einen eine soziale Bande der Freundschaftlichkeit zwischen Gleichberechtigten zu erzeugen, kreiert jedoch zugleich Statusdifferenzen zwischen Aufnehmenden und Geflüchtetem. Diese Situation wandeln den Austauschprozess „zwischen Gleichberechtigten in eine Machtbeziehung zwischen Übergeordneten und Untergeordneten um“ (ebd., 134). So betont Blau weiter, dass sich selbst interpersonale Beziehungen nicht per se komplexen gesellschaftlichen Strukturen entziehen, sondern von immanenten Machtverhältnisse beeinflusst sind und asymmetrische Beziehungsmuster reproduzieren (können):
Die Sympathiekundgebungen für Flüchtende haben [...] einen einfacheren, aufbauenden Kontext: Flüchtende sind bedürftig, brauchen Hilfe, die großzügig von Mehrheitsdeutschen geleistet wird (die wiederum als Gegenleistung verständlicherweise Dankbarkeit erwarten) – es ist klar, wer zuhause, wer ‚Gast’ ist, es gibt notwendigerweise keine Gleichwertigkeit.“ (El-Tayeb 2016, 17).

3.2. Der spezifisch Andere
„Warum muss ich ein Flüchtling sein? [...] Die Leute hier müssen sagen, dass ich ein Flüchtling bin und ich muss das auch sagen: ‚Ich, ich bin ein Flüchtling.’ [...] Ich weiß, dass ich keiner bin, aber wenn du sagst, dass du es bist, dann verstehen die Leute es: Du brauchst Hilfe. Und deswegen mache ich das auch“ (Interview mit Bedir O. vom 30.04.2015).
Hier zeigt sich, wie die Figur des Flüchtlings in verschiedenen Situationen immer wieder an soziale Differenzen erinnert. Die Literaturwissenschaftlerin Susan Arndt verweist in ihrem taz-Artikel „Kants ganz anderer Kontinent“ vom 14.5.2015 auf die sich im gegenwärtigen Sprachgebrauch immer noch entfaltenden kolonialen Erfindungen Afrikas. Dabei problematisiert sie auch das Suffix -ling, das „immer eine diskriminierende Wirkung (wie in Emporkömmling) [hat] oder [...] hierarchische Unterlegenheit aus[drückt] wie in Schmetterling, der eben eines nicht tut: schmettern“ (Arndt 2015) – auch der Begriff „Flüchtling“ ist ein kolonialistisch geprägtes Vokabular mit hierarchisierender und diskriminierender Wirkung.[4]
Schließlich werden die Geflüchteten auch dann als „spezifisch Andere“ markiert, wenn sie exotisiert und homogenisiert werden: Jonas K., der beruflich in Südafrika tätig war, erzählt beispielsweise, wie er durch Amir K. „sofort an die Jungs erinnert [wurde], die dort für uns gearbeitet haben. Und das fand ich irgendwie cool, so einen Spirit um mich zu haben“ (Interview mit Jonas K. vom 06.04.2015). Wird das englische Wort „Spirit“ hier mit „Temperament“ übersetzt, so erscheint das als typisch markierte Verhalten des Anderen als kontrastierendes Spiegelbild eigener Subjektivität, es wirkt homogenisierend wie essentialisierend (vgl. Rommelspacher 2009, 29) und konstruiert Schwarzsein über das Körperliche und Kulturelle (Sow 2009, 81). Laut Stuart Hall (1989) produziere eine solche Repräsentation einerseits die Identität des Anderen und sichert andererseits eigene Identifikationen ab (ebd., 919). Dies ist auch dann der Fall, wenn Schwarzsein durch Verkindlichung verdinglicht wird und einer rationalen, erwachsenen und überlegenen Eigensubjektivierung entgegengesetzt wird. Formen primitivisierenden Sprechens mit und über schwarze Subjekte, wie in der Figur des schwarzen „Flüchtlings“ liest Frantz Fanon (1985, 24f.) in Schwarze Haut, weiße Masken nicht zuletzt als Ausdruck kolonialer Beziehungsmuster. Er verweist auf ungleiche Begegnungsmomente, die Schwarzsein als einen Ur-Gegensatz von Weißsein etablieren.
Insgesamt wird hier Konvivialität, verstanden als Prozess, der die Verflechtung zwischen der Gabe und ungleichen Machtverhältnissen auszubalancieren und soziale Grenzen durch die Dekonstruktion symbolischer Grenzen aufzubrechen versucht, durch die gesellschaftlich konstruierte Position des „Schwarzen“ und des „Flüchtlings“ herausgefordert: Die Möglichkeit für die Geflüchteten sich zu diesen machtvollen Positionen zu verhalten, bewegt sich im Spannungsverhältnis zwischen Fremd- und Selbstzuschreibung ihrer gesellschaftlichen Position.

3.3. Der Fremde im Haus
Eine weitere Ebene des Machtverhältnisses wird deutlich, wenn in den WGs die Themen (Homo-)Sexualität und Frauenbild aufkommen. In der Kreuzberger WG spielt Sexualität eine Rolle, als die Beziehung zwischen „der weißen, femininen Unterstützerin und den schwarzen Männern“ (Interview mit Lara M. vom 26.04.2015) thematisiert wird. Dabei entstehe eine „gewisse Angst, dass die Männer mehr als nur eine Unterstützerrolle suchen“ (ebd.). Mira S. sieht sich zwar nicht „in Gefahr, zu etwas gezwungen zu werden“, doch es brauche „schon so dieses Gespräch“, um zu erklären, dass die Beziehung zueinander nur auf „freundschaftlicher Basis“ bestehe: „Mit Bedir muss ich es vielleicht noch führen“ (Interview mit Mira S. vom 26.04.2015).
Da der Umgang „hier“ zwischen Männern und Frauen „anders“ sei, als es in „anderen Kulturkreisen so üblich ist, [...] ist es dann einfach auch irgendwie natürlich, dass sich dann Gefühle entwickeln. Da sind Leute, die auf dich zukommen, dich aufnehmen, herzlich mit dir umgehen [...] und sie sind vielleicht auch gar nicht gewohnt, dass so ein Umgang stattfindet“ (ebd.). Lara M. ist der Meinung, dass dies „eben die unterschiedliche Sozialisation zeigt“. So erklären sie die Notwendigkeit eines erklärenden Gesprächs wie Zuschauende von außen mit der Herkunft und dem Status des Geflüchteten:
„Der Geflüchtete strandet ja nicht nur als Fremder in einem Land, sondern lebt als Fremder in einem Land nur mit Männern zusammen, hat kaum Kontakt zu Frauen, die aus dem eigenem Land oder Kulturkreis kommen und nur Kontakt mit Frauen von hier“ (Interview mit Lara M. vom 26.04.2015).
Die Entwicklung von Gefühlen als „natürlich“ zu nehmen und die Betonung der latenten „Gefahr“ der Grenzüberschreitung der freundschaftlichen Beziehung, sexualisiert und bevormundet den schwarzen, männlichen Geflüchteten. Wieder stellt das „Wir“ ein Subjekt dar, das „hier“ verortet wird und rational die Situation erklären kann, während „der Andere“ „dort“ ist, der emotional wahrgenommen und zum Objekt der Situation wird. Das oben genannte binäre Denken in antagonistischen Kategorien (rational/emotional) impliziert „immer bereits eine Naturalisierung von wahrgenommenen Unterschieden zwischen dem Westen und dem ‚Rest’ sowie eine Hierarchisierung“ (Franzki/Aikins 2010, 13).
Und auch wenn nicht intendiert, spiegelt diese Annahme eine bestimmte Denkstruktur des „Race-Sexualitätsdispositivs“ bzw. der „rassisierten“ Sexualität wider: „Die Sexualisierung von Blackness grenzt den schwarzen Mann als von unzivilisierbaren Triebexzess gesteuert aus und erzeugt Whiteness als Ort zivilisierter Sublimationsfähigkeit“ (Dietze 2013, 265). Der Dualismus weiß/schwarz erweitert sich durch die zugeschriebene Zugehörigkeit der Geflüchteten zum so genannten muslimischen Kulturkreis. Muslimisch-Sein bedeutet in diesem Kontext eher sexistisch zu sein. Gleichzeitig wird eine bestimmte „andere“ Weiblichkeit imaginiert: Die „Frauen von hier“ werden zum Gegensetz der „Frauen aus dem Kulturkreis“ der Geflüchteten erklärt. Diese Gegensätzlichkeit verweist auf ein bestimmtes Bild des weiß-feministischen Emanzipationsdiskurses, das Frauen in muslimisch geprägten Gesellschaften per se als unterdrückt und untergeordnet versteht (Cetin 2015, 35; Rommelspacher 1995).
In der WG in Mitte kommen ähnliche Gesprächsformen vor: in „lustigen Diskussionen über Frauenbilder“. Lena S. bemühe sich „nicht vom hohen Ross“ zu reden und
„Immanuel ernst [zu] nehmen, aber es wird dann schwierig darüber zu reden, weil man schnell urteilt [...] oder man redet moralisch und vergisst manchmal auch, wo er herkommt [...] Vielleicht kann man ihm versuchen, nahezubringen, wie es hier ist, ohne das, wie er aufgewachsen ist, negativ darzustellen“ (Interview mit Lena S. vom 12.05.2015).
Das Frauenbild des Geflüchteten wird mit seiner kulturellen Herkunft verknüpft – er könne jedoch mit dem Frauenbild im europäischen Sinne zivilisiert werden. Hier deutet sich implizit „der feste Glaube an die Überlegenheit ‚westlicher Werte’“ (El-Tayeb 2016, 19) an, der auch im nächsten Beispiel wirksam wird. Miriam T. aus der Friedrichshainer WG erzählt:
„Ich hatte Angst, wie [Amir] reagiert, wenn er das mit mir und meiner Freundin weiß. Da war ich vorsichtig. Da dachte ich: entweder findet er das total geil [...] oder total schlimm, so etwas macht man nicht und das geht nicht. [...] Irgendwann haben wir es ihm gesagt und er meinte sofort: Ja, klar. Ok. [...]. Das war lustig, weil er ganz gechillt damit umgegangen ist. Aber wir sind vor ihm auch nicht so offen. Da ist schon ein bisschen Distanz oder Scheu. Ein bisschen anders, als vor den Anderen. Daran muss man sich erst einmal gewöhnen“ (Interview mit Miriam T. vom 23.04.2015).
Mit Bezug auf das Konzept der Dominanzkultur der Soziologin Birgit Rommelspacher (1995), die sich mit rassistischen, heterosexistischen und klassenspezifischen Dominanzverhältnissen auseinandersetzt und versucht, den westlichen universalistischen Gleichheitsanspruch zu dekonstruieren, verweist der Soziologe Zülfukar Cetin (2015) auf die Entwicklung eines ‚antimuslimischen Homophobie-Diskurses’, den er unter dem Begriff Homonationalismus (als eine Ausdrucksform der Dominanzkultur) fasst. Dieser zeige, wie gerade gegenüber muslimischen Gesellschaften die zunehmende Akzeptanz von Homosexualität ‚westlicher’ Staaten als ’Zivilisationsüberlegenheit’ zelebriert werde, um gleichzeitig Homophobie zu kulturalisieren, rassifizieren und klassifizieren (ebd.: 36; Dietze u.a. 2012). In Themen wie (Homo-)Sexualität, sexuelle Beziehungen und Geschlechtervorstellungen äußert sich somit ein spezifisches Dominanzverhältnis auf der Basis der zugeschriebenen Fremdartigkeit des Geflüchteten (vgl. Keskinkilic in diesem Sammelband). Dabei werden Herkunft und Religionszugehörigkeit auf spezifische Weise gedeutet: Die Annahme, dass der Geflüchtete auf Homosexualität mit Ablehnung reagieren könnte, basiert auf dessen Status als markierter Nicht-Europäer, dessen kulturelle – muslimische – Herkunft sich von deutschen – christlich/säkularisierten – Standards im Allgemeinen und von weißen WG-Normen im Speziellen unterscheide. Die Annahme, dass eine spezifische Notwendigkeit bestehe, dem Geflüchteten den Unterschied zwischen sexueller und freundschaftlicher Beziehung zu erklären, basiert schließlich neben der Markierung als Nicht-Europäer auch auf der Sexualisierung von Schwarzen (Dietze 2013; Fanon 1985).

3.4. Konviviale Ansprüche in der „Flüchtlingskrise“
Sich im Kontext der so genannten „Flüchtlingskrise“ solidarisch und hilfsbereit zu zeigen, ist eingebettet in einem komplexen Geflecht aus sozialer, politischer und struktureller Ungleichheit, Ab- und Eingrenzungsprozessen. In diesem Kontext bedeutet „Linkssein“ und Konvivialität, sich immer wieder im Widerspruch zwischen Anspruch und Umsetzung wiederzufinden. Im Zusammenleben scheinen weniger Fragen nach den materiellen/finanziellen Anforderungen der Unterstützung die Aufnehmenden vor neue Herausforderungen zu stellen, sondern viel mehr die Perspektiven und gesellschaftlichen Positionen der Geflüchteten. Die WG in Friedrichshain erhebe beispielsweise den Anspruch, dass Amir K. „[in Berlin] ein selbstbestimmtes und selbst gewähltes Leben [hat]. Eigentlich müsste er in einem Camp außerhalb wohnen, hier macht er einen Sprachkurs und ist nicht isoliert vom normalen gesellschaftlichen Leben“ (Interview mit Miriam T. vom 23.04.2015). Dieser gemeinsame Anspruch bedeute für Miriam T., dass sich seit dem Einzug von Amir K. nicht nur im Abstrakten damit beschäftige, „offen, alternativ und tolerant“ (ebd.) zu sein, sondern sich persönlich darauf einlasse, ihren „normalen Alltag zu verändern“ (ebd.). Miriam T. beobachte sich jedoch auch selbst dabei, wie mit Amir K. als schwarzer Geflüchteter auch der „Abbau von Vorurteilen“ (ebd.) einhergehe: „In Deutschland fällt einfach auf, wenn jemand schwarz ist. [...] Irgendwann wird es total egal, wie Amir aussieht und man merkt, die sind gar nicht anders“ (ebd.). Für Jonas K. ist die Aufnahme zu einem „Fallbeispiel“ geworden, „um Leuten zu zeigen, dass sie ihre Standpunkte überdenken sollen“ (Interview mit Jonas K. vom 06.04.2015). Er führe seit der Aufnahme des Öfteren „Diskussionen mit Leuten, die nicht sofort so denken wie wir. [...] Da finde ich mich sehr schnell in einer Verteidigungsrolle wieder“ (ebd.). Dennoch betont er, dass sie sich als WG „eher von größeren Botschaften fernhalten [wollen], um keinen Druck aufzubauen, dass das alles perfekt werden muss“ (ebd.). Elsa U. verbindet schließlich die Aufnahme mit der generellen Frage, „auf welcher Ebene man politisch sein will und inwieweit man die Politik in sein alltägliches Leben herein lässt. Denn man kann ja auf Demos gehen oder spenden, aber da ist immer eine Instanz dazwischen. Wohnen ist schon etwas anderes. Es ist einer der privatesten Bereiche“ (Interview mit Elsa U. vom 27.02.2015).
Lara M. aus Mitte hebt hervor, dass das Zusammenleben mit Geflüchteten einen „unheimlichen Mehrwert“ (Interview mit Lara M. vom 26.04.2015) habe, um eigene Erfahrungen zu machen, dass die ankommenden Menschen „oft ähnlich denken und [...] Kommunikation möglich ist. Es wäre schön, wenn mehr Leute das sehen und verstehen und nicht nur diese Katastrophen-Situation im Kopf haben“ (ebd.). Von eigenen Erfahrungen zu erzählen, erweckt in Mira S. die Hoffnung, dass sich dabei auch „das Verhalten oder die Denkweise zumindest bei ein paar Menschen in Deutschland verändert“ (Interview mit Mira S. vom 26.04.2015). Mira S. beschäftigt aber auch ihr eigenes Mitgefühl:
„Wenn man sich um jemanden kümmert und Verantwortung übernimmt und nicht die Sicherheit hat, dass dieser Mensch bleiben kann, [...] dann ist das auch ein emotionales Risiko für mich“ (ebd.).
Während die Mitbewohnenden in Mitte und Friedrichshain insbesondere die persönliche, zwischenmenschliche und gesellschaftliche Bedeutung der Unterstützung betonen, hebt Lena S. aus Kreuzberg die Relevanz ihrer „politischen“ Involviertheit hervor:
„Das Solizimmer ist ein Beispiel für materielle Solidarität, das sicher notwendig ist. Ich glaube, es ist möglich und wichtig, dass Nicht-Geflüchtete sich mit Geflüchteten solidarisch zeigen. Zu Solidarität gehört für mich aber noch viel mehr dazu: Zum Beispiel, sich mit dem eigenen Rassismus auseinandersetzen, Geflüchtete in ihrer politischen Arbeit zu unterstützen, in Soligruppen aktiv sein. Teilweise tun wir diese Dinge aber unser Zusammenleben mit Immanuel ging eigentlich nicht über die beschränkte materielle Solidarität hinaus“ (Interview mit Lena S. vom 12.05.2015).
Ansprüche an die und Bedeutungszuschreibungen der Aufnahme beziehen sich auf unterschiedliche Aspekte. Insgesamt wollen sich die Aufnehmenden durch soziale wie materielle Unterstützung solidarisch und hilfsbereit zeigen, Geflüchtete nicht ausgrenzen, sondern inmitten ihres privaten Zusammenlebens aufnehmen. Dabei kommen auch immer wieder Fragen nach den eigenen Grenzziehungen auf – wie viel Verantwortung übernommen und welche Unterstützungsleistungen angeboten werden wollen oder sollen.
Innerhalb dieser Unsicherheiten und Ansprüche im Zusammenleben reproduzieren sich auch die oben genannten auf kolonial geprägten Wissensformationen und Beziehungsmuster basierenden Ungleichverhältnisse. Weiter herausgefordert werden die WG-internen Beziehungen durch die stark polarisierten öffentlichen „Flüchtlingsdebatten“ und restriktiven rechtlichen Rahmenbedingungen. Sie platzieren die Aufnahme von Geflüchteten in den privaten Wohnraum an die Schnittstelle zwischen Legalität und Illegalität sowie gesellschaftlicher Zustimmung und Ablehnung. Das Zusammenleben geht somit einher mit persönlichen Abgrenzungsversuchen von restriktiven Politiken, bei denen die strukturellen Ungleichheiten jedoch wirksam bleiben:
„Seit Amir hier wohnt, kamen irgendwie viele andere Themen auf mich zu. Meist merkt man ja erst in der Praxis, wie man selbst mit so etwas umgeht. [...] Man will es besser machen als die Politik von oben. Aber manchmal merkt man, dass man mit bestimmten Dingen auch zu kämpfen hat oder unsicher ist“ (Interview mit Elsa U. vom 27.02.2015).

4. Fazit: Zwischen Egalität und Hierarchie
Inwiefern spielen Macht und Ungleichheit in der Willkommenskultur eine Rolle? In den WG-Konstellationen sammeln sich komplexe Geflechte aus strukturellen Voraussetzungen, individuellen Einstellungen und Erfahrungen, unterschiedlichen Wissensbeständen und Ansprüchen. In sozialen Prozessen zwischen Menschen, die ungleiche gesellschaftliche Positionen beziehen, wird dabei unweigerlich Machtungleichheit generiert. Somit muss eine Untersuchung sozialer Beziehungen die „sozialen Kräfte mit einbeziehen, die nicht in direkten face-to-face-Interaktionen beobachtbar sind“ (Blau 2005, 133). Es bedeutet, dass sich Ungleichheit auch im konvivial motivierten Zusammenleben konstituiert. In den WGs sichern sich die Aufnehmenden als „Mehrheitsangehörige das Privileg, in der Norm zu leben und ihre Normalität als verbindlich für die Anderen zu definieren“ (Rommelspacher 2009, 32). Damit erheben sie (teils implizit, teils explizit) den Anspruch, Inhalt und Reichweite von Konvivialität vorzugeben. So lassen sich ihre Bemühungen nicht nur auf der zeitlichen, finanziellen oder räumlichen Ebene feststellen, sondern auch, wenn es darum geht, die eigenen Normen und Positionen zu sichern. Die Fremd- und Selbstbezeichnung als „Flüchtling“ produziert dabei automatisch ein Dominanzverhältnis seitens der Aufnehmenden. In den aufgezeigten Beispielen verdeutlichen sich tief verankerte kolonial geprägte Wissensbestände, die zur Essentialisierung und Kulturalisierung der Verhaltensweisen wie Haltungen der Geflüchteten beitragen und ihre Ausgrenzung bewirken. Im multikulturalistischen Sinne stellt sich dabei das „Wir“ der Aufnehmenden als homogene Gruppe und Handelnde mit „kolonialem Überlegenheitsgestus“ (Römhild/Westrich 2013, 4) dar. Beispielsweise dann, wenn der Anspruch erhoben wird, dass sich der Geflüchtete den Denk- und Handlungsweisen der bestehenden WG anzupassen hat. Der Prozess der Essentialisierung und Kulturalisierung dient schließlich auch dazu, dass das daraus resultierende Machtverhältnis legitimiert wird, normal und plausibel erscheint. Dabei verfolgen die Aufnehmenden eine ambivalente Logik „zwischen Egalitätsvorstellungen und Hierarchieinteressen“ (Rommelspacher 2009, 34).  Für die so genannte Willkommenskultur zeigt dies, dass koloniale Wissensbestände auch die darin hergestellten sozialen Beziehungen prägen: wenn Geflüchtete infantilisiert, bevormundet, sexualisiert oder exotisiert werden. Hier wird die Kritik von Sara Ahmed (2004) an Paul Gilroy zentral: In einer zutiefst rassistischen Gesellschaft sei ein Denken jenseits von race utopisch und wird im Gegensatz zu Gilroys Behauptung alles andere als obsolet, denn als soziale Konstante kreiert race soziale Tatsachen (ebd., 48). Race – verstanden als Produkt von Zuschreibungen kollektiver quasi­biologischer und/oder kultureller Eigenschaften einer Person – legitimiert weiterhin „die Wahrnehmung bestimmter Gruppen als nicht zugehörig [...], auch wenn sie bereits Teil der Gesellschaft sind“ (El-Tayeb 2016, 15). Des Weiteren weist Rassismusforscherin Philomena Essed (2008) in ihrem Konzept Everyday Racism“ darauf hin, dass Rassismus häufig stark kodiert als gewöhnliches gesellschaftliches Verhalten existiert und nicht ein singulärer Akt in sich ist, sondern die Akkumulation kleiner (weniger auffallender) Ungleichheiten (ebd., 448).
Im Kontext dieser Überlegungen muss sich aber nicht nur die Frage nach Ungleichheit in der deutschen Willkommenskultur, in der die Geflüchteten mit bedeutenden Hilfen versorgt werden, sich Verpflichtungen ansammeln und eine einseitige Abhängigkeit erzeugt wird, weiter gestellt werden. Sondern es geht auch um die Frage, inwiefern und unter welchen Rahmenbedingungen Solidarität zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheit praktiziert werden kann. Hier geht es insbesondere darum, wie die in Deutschland ankommenden Geflüchteten nicht nur den politischen Status, sondern auch die gesellschaftlichen Selbst- wie Fremdwahrnehmungen als Flüchtling, die mit sozialen und symbolischen Grenzziehungen einhergehen, überwinden und wie die konvivialen Ansprüche der Unterstützenden tatsächlich umgesetzt werden (können).
Das Konzept der Konvivialität kann für diese Analyse sehr nützlich sein, wenn der Aspekt der Ungleichheit mit im Fokus bleibt. Denn die daraus resultierenden Machtverhältnisse spiegeln eine weitgreifende Gesellschaftsdynamik in Europa wider. Die unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen zwischen schwarzen Geflüchteten und weißen Unterstützenden fordern das Zusammenleben heraus und zeigen: Konvivialität findet eben nicht in einem Vakuum statt, sondern ist eingebettet im postkolonialen Raum.

Literaturverzeichnis
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[1] „schwarz“ und „weiß“ bezeichnen keine phänotypischen Differenzierungsmerkmale, sondern im Kontext des Kolonialrassismus ideologisch konstruierte ,Hautfarben’, die Menschen innerhalb einer Gesellschaft zugeschrieben werden (Arndt 2005).
[2] Insgesamt wurden sieben Aufnehmende und drei Geflüchtete interviewt. Für die aufgeführten interviewten Personen verwende ich Pseudonyme.
[3] Außer Amir K. stehen für Bedir O. und Immanuel B. keine eigenen Zimmer zur Verfügung, sondern sie sind auf die Organisierung von freien Schlafmöglichkeiten innerhalb der WG angewiesen. Nachdem es in der WG von Immanuel B. zu Unstimmigkeiten über Privatsphäre und Aufnahmedauer kommt, bitten die Aufnehmenden ihn auszuziehen. Er zieht zu Bekannten in Berlin.
[4] Siehe dazu u.a.: http://www.sprachlog.de/2012/12/01/fluechtlinge-und-gefluechtete/, aufgerufen am 22.4.2016.


Autorin

Leoni Johanne Meyer
Neben der Frage, welche gesamtgesellschaftlichen Machtstrukturen in der so genannten „Willkommenskultur“ wirksam sind, motivierte mich zur Forschung insbesondere die Involviertheit linkspositionierter Menschen darin. Währenddessen setzte ich mich kritisch mit meiner eignen Rolle als weiße, linke Wissenschaftlerin auseinander. Insgesamt beschäftige ich mich mit dem Problem, wie und unter welchen Rahmenbedingungen Mehrheitsgesellschaft und Minderheit über Möglichkeiten der Solidarität nachdenken, diskutieren können.
Leoni Johanne Meyer studiert am Institut für Europäische Ethnologie, B.A.

Bitte diesen Beitrag wie folgt zitieren:
Leoni Johanne Meyer (2016): "Refugees Welcome" in Berliner Wohngemeinschaften. Konvivialität und Ungleichheit. In: Gökce Yurdakul, Regina Römhild, Anja Schwanhäußer, Birgit zur Nieden, Aleksandra Lakic, Serhat Karakayali (Hg.): E-Book Project of Humboldt-University Students: Witnessing the Transition: Refugees, Asylum-Seekers and Migrants in Transnational Perspective. Preview (Weblog), https://www.blogger.com/blogger.g?blogID=863130166696833325#editor/target=post;postID=3697950972162993466;onPublishedMenu=allposts;onClosedMenu=allposts;postNum=0;src=link

 

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