Von Leoni Johanne Meyer
Der folgende Artikel untersucht die Verknüpfung
von Willkommenskultur und Ungleichheit im Kontext der aktuellen
Fluchtbewegungen nach Europa. Dabei werden Studienergebnisse meiner
dreimonatigen Feldforschung in Berliner Wohngemeinschaften (WGs), in denen
weiße Studierende schwarze Geflüchtete aufnehmen, präsentiert und analysiert. Im
Fokus der Untersuchung stehen die kolonialen Wissensformationen der
Aufnehmenden, die inmitten der sich als tolerant und weltoffen artikulierten Willkommenskultur
Ungleichheitsverhältnisse herstellen. Die dabei entstehenden Beziehungen werden
mit dem Konzept der Konvivialität untersucht und gezeigt, inwiefern das Zusammenleben nicht von den Machstrukturen derer
trennbar ist, die im Kollektiv involviert sind. Somit wird auf einen wichtigen
Aspekt hingewiesen, der in vielen Analysen über die soziale wie
gesellschaftliche Situation von und mit Geflüchteten vernachlässigt wird oder
ganz unsichtbar bleibt: die Rolle von Ungleichheit.
1. Ungleichheit in der Willkommenskultur
Rassismus und
Willkommenskultur gehören im Kontext der so genannten Flüchtlingskrise
wahrscheinlich zu den meist genannten Begrifflichkeiten in gesellschaftlichen
und politischen Debatten wie auch in den deutschen Medien. Dabei werden sie als
zwei völlig voneinander getrennte Phänomene wahrgenommen: „Rassistisch“ zeigten
sich insbesondere „Dunkeldeutsche“ (Die Welt vom 26.8.2015) durch körperliche Gewalt, Hetze und Übergriffe
auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte. Als „rassistisch“ werden von
linkspolitischen Gruppen aber auch jene Gesetzesänderungen benannt, die die
Rechte von Geflüchteten weiter einschränken und ihre bereits prekären
Lebenssituationen in Deutschland weiter verdrängen. Die „Willkommenskultur“
versucht wiederum Aussagen und Praktiken der deutschen Bevölkerung zu betonen,
die sich gegenüber Geflüchteten solidarisch und hilfsbereit zeigen, auf die
Gleichheit der Menschen verweisen und Ausgrenzungen mit Gesten des
Willkommens-Seins und der Anerkennung entgegen wirken wollen (IQ 2014). Die
Anzahl der Willkommens-Initiativen ist groß und wächst stetig an. Initiativen
wie von linken Politgruppen organisierte Schlafplatzorgas setzen sich
bereits seit einigen Jahren für das Recht von Geflüchteten auf privaten
Wohnraum ein und unterstützen ihre
politischen Kämpfe, indem sie unabhängig von Status und Herkunft
temporär private Unterkünfte organisieren. Zwar stellen diejenigen, die eine geflüchtete Person aufnehmen, relevante
materielle, soziale wie kulturelle Ressourcen zur Verfügung, dennoch bleibt die
gemeinsame Wohnsituation nicht frei von Konflikten: Denn trotz Bemühungen,
fernab der ungleichen gesellschaftlichen Positionen ein Zusammenleben ‚auf
Augenhöhe’ umzusetzen, produzieren die in den WGs oft entstehenden
Konstellationen aus weißen[1]
Deutschen und nicht-weißen Geflüchteten inmitten des Anspruchs auf Gleichheit
soziale Trennlinien zwischen selbsterkorenen Helfenden und passiven
Hilfsbedürftigen, Gebenden und (An-)Nehmenden; eine Dynamik, die das
Zusammenleben auf Augenhöhe herausfordert und die gesellschaftlichen
Ungleichheitsverhältnisse auf engstem Raum wirkmächtig macht. Am Beispiel der
Aufnahme von Geflüchteten in Wohngemeinschaften beleuchtet dieser Beitrag die
Manifestation und Reproduktion von Ungleichheit in der Willkommenskultur und
analysiert darin asymmetrische Beziehungsmuster. Das empirische Material
basiert auf einer Feldforschung, die ich
von Februar bis März 2015 durchgeführt habe.[2]
Diese Analyse soll zur kritischen Auseinandersetzung über Machtstrukturen und
Formen des Zusammenlebens auf Augenhöhe anregen, um schließlich weiter über die
Möglichkeiten der Solidarität zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheit
nachzudenken und zu diskutieren.
2. Conviviality – just living together?
Seit
einigen Jahren taucht das Konzept der Konvivialität zunehmend in
wissenschaftlichen Debatten zur Untersuchung des Zusammenlebens auf
(Adloff/Leggewie 2014; Nowicka/Vertovec
2014).
Als Analysewerkzeug wird der Begriff unter anderem verwendet, um sich tiefergreifend
mit der Condition humaine und
verschiedenen Vorstellungen des Miteinanders in migrationsgeprägten
Gesellschaften auseinanderzusetzen.
Im Mittelpunkt der Analysen
steht die Frage „Wie können bzw.
sollen wir zusammenleben?“ Dies soll
anhand sozialer Aushandlungsprozesse und der darin aufkommenden spezifischen Qualitäten sozialer Beziehungen im Verhältnis zu ihren orts-
und zeitgebundenen kontextuellen Entstehungsbedingungen, wie die individuellen
Einstellungen, öffentlichen Diskursen, institutionellen Rahmenbedingungen oder
auch materiellen Umwelten, untersucht werden.
Der
britische Soziologe und Kulturwissenschaftler Paul Gilroy betrachtet
Konvivialität als einen Perspektivwechsel, der jene Prozesse des Zusammenlebens
anerkennt, die „Multikultur“ als alltäglichen Aspekt des sozialen Lebens
einschließt (Gilroy 2004, xi). Diese Perspektive kritisiert die imperialen Politiken Großbritanniens bzw. Europas,
die im Zuge der Multikulturalismus-Debatten nationengebundene Vorstellungen von
Gesellschaften verbreiten und kulturelle Unterschiede als Aspekt des Konflikts
zwischen starren und nicht zu vereinbaren Zivilisationen darstellen. Kultur
wird dabei als exklusives nationales Phänomen homogenisiert, instrumentalisiert
und pauschalisiert (ebd., I). Mit Vorstellungen von
einem „Wir und die Anderen“ im Sinne eines „The West and The Rest“ (Hall 1996)
erhebt das nationale Kollektiv im Kern den Anspruch, dass sich Menschen aus
anderen (nationalen) Gruppierungen, die homogen imaginierten Ritualen, Normen, Werten
anerkennen und sich ihnen anpassen müssten. Dieser Prozess etabliert
unvermeidlich Ausgrenzungsmechanismen entlang rassistischer Hierarchisierungen, in der Mensch-Sein nicht
genug ist, um sich für Anerkennung zu qualifizieren (Gilroy 2006). Fernab solcher Debatten werde jedoch in urbanen Räumen ein Zusammenleben jenseits rassistischer, sprachlicher und
religiöser Differenzannahmen praktiziert, so Gilroy, und Dissenz beispielsweise
über Geschmack, Lifestyle oder Freizeitgestaltungen in Echtzeit ausgehandelt.
Dies zeige, dass Differenzen ad
hoc konstruiert würden (Gilroy 2004, 39f.) und neben Rassismus eine
alternative Untersuchung sozialer Beziehungen in diversitätsgeprägten Räumen
möglich sei. Zwar blieben Hierarchien
weiterhin bestehen, jedoch könne durch Konvivialität als Analyseperspektive der
Kontakt und die Auseinandersetzung zwischen ungleichen Positionen als Momente des spontanen,
unsichtbaren und teils ungewollten „undoing of racism” (Gilroy 2006, 7)
analysiert werden.
Um
das gesellschaftliche Zusammenleben auf
Augenhöhe – also konvivial – zu gestalten,
brauche es, laut Gilroy, eine Veränderung der Politik: „I don’t want to call it multiculturalism; I want to call it conviviality – just living together“ (ebd.). Darin fordert er eine „radikale Öffnung“ zur
Neuaushandlung festgelegter Prinzipien
und Werte des Zusammenlebens. Dieser Aushandlungsprozess fordere direkte
Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Perspektiven und Positionen,
denn nur so könne man der immer schon dagewesenen Realität unterschiedlicher
Denk-, Lebens- und Handlungsweisen, die Konflikte mit einschließt, gerecht
werden.
In Bezug auf
interpersonelle Beziehungen basiert ein konviviales Zusammenleben auf den
Logiken der Gabe nach Marcel ([1924] 1978). Der Zyklus des
Gebens, Nehmens und Erwiderns bewegt sich dabei im Spannungsverhältnis zwischen
sozialer Verpflichtung und Spontaneität, zwischen Eigennützigkeit und
Freundschaftlichkeit. Kann eine Gabe nicht erwidert werden, führt das zwischen
den Handelnden zu Abhängigkeitsverhältnissen. Ein Zusammenleben auf Augenhöhe erziele jedoch
eine Anerkennung, in der sich „niemand [...] zum alleinigen Geber aufschwingt,
sondern sich die Positionen des Gebens und Nehmens gegenseitig
abwechseln“ (Adloff/Leggewie 2014, 27). Diese Überlegung greift auch Gilroys Idee der „radikalen Offenheit“ sowie
die des „Pluriversalismus“ des französischen Soziologen Alain
Caillé auf: Ein „Gleichheitsrecht der Kulturen und gleichzeitig das Recht, sich radikal
voneinander zu unterscheiden“ (ebd., 26). Sie stellen sich Konvivialität als Prozess vor, der die Verflechtung zwischen der Gabe und ungleichen
Machtverhältnissen ausbalanciert. Soziale Grenzen werden durch Dekonstruktion
symbolischer Grenzen aufgebrochen bzw. verschoben.
Konvivialität wird nun
in einem Feld angewandt, das in hoch brisanten gesellschaftlichen wie
politischen Debatten eingebettet ist: Im Bereich der so genannten
Willkommenskultur als Reaktion auf derzeitige Fluchtbewegungen, die dadurch
ausgelösten restriktiven Politiken, rassistische Mobilisierung und gleichzeitig
der politischen und sozialen Kämpfe der Geflüchteten selbst. Dabei gilt zu
betonen, dass auch eine antirassistisch motivierte Forschung sich ihrem
sozialen Kontext nicht entzieht. Forschungen über bzw. mit Geflüchteten gilt es
prinzipiell zu problematisieren, denn ihr ist ein Machtverhältnis immanent, das
durch Reflexion nicht einfach aufgehoben werden kann (Kleist 2015). Aus
Perspektive der Geflüchteten kann diese Forschung nicht schreiben. Was diese
Forschung kann, ist aus Perspektive der weißen, links positionierten Forscherin
(und als solche in der Feldforschung wahrgenommene) jene Stimmen aus dem Feld
zu reflektieren, die seitens der nicht-geflüchteten Aufnehmenden die Qualität
des Zusammenlebens prägen. Dabei ist wichtig zu betonen, dass die Geflüchteten die
hier aufgeführten Wissensformationen irritieren und verändern. Hier steht jedoch
der implizite und durchaus wirksame Machtanspruch der Aufnehmenden im Fokus. Es
soll auf einen sehr wichtigen Aspekt im Feld der gegenwärtig verfochtenen Willkommenskultur
hinweisen, der in vielen Analysen über die sozialen wie gesellschaftlichen
Situationen von und mit Geflüchteten vernachlässigt wird oder ganz unsichtbar
bleibt: die Rolle von Ungleichheit.
3. Machtungleichheiten im postkolonialen Raum
3.1. „Wir“ und „der Flüchtling“
Amir
K., Bedir O. und Immanuel B. sind die aufgenommenen Geflüchteten in den
untersuchten WGs in Berlin. Sie sind Anfang 30 und übten in ihren Herkunftsländern unterschiedliche
Berufe unter prekären Bedingungen aus. Seitdem sie ihren Wohnort, ihre
Freundes- und Familienkreise verließen, sind
sie seit mehreren Jahren in verschiedenen Ländern meist allein
unterwegs, bauen soziale Netze auf, versuchen den Kontakt zur Familie
aufrechtzuerhalten und sind permanent mit dem Organisieren finanzieller Mittel
für die Weiterreise und das Überleben beschäftigt. Immer wieder treffen sie
dabei auf europäische Grenzen, durch die sie in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt
sind, die ihnen Arbeitsverbote erteilen und permanent versuchen, sie auf ihren
Wegen zu kontrollieren:
„Europa
ist Feuer. Als ich in Afrika war, dachte ich, hier gibt es Gleichheit. Ich
wusste nicht, dass alle fragen: ‚Du kommst nicht aus Europa?’ Ich wusste nicht,
dass es diese Kontrollen gibt“ (Interview
mit Amir K. vom 03.04.2015).
Amir
K. kommt aus dem Niger, floh vor vier Jahren über das Mittelmeer nach Italien
und befindet sich seit zwei Jahren in Deutschlands Asylverfahren. Bedir O.
kommt aus dem Tschad, floh vor neun Jahren nach Europa und hält sich derzeit
ohne Papiere in Berlin auf. Immanuel B. kommt aus dem Sudan, flüchtete vor drei
Jahren nach Europa und besitzt derzeit keinen legalen Aufenthaltsstatus. Ende 2014 wurden sie in unterschiedlichen WGs
temporär aufgenommen, nachdem sie als
Teilnehmende an der Geflüchtetenbewegung am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg
lebten (vgl. Wickert/Lambert 2015).
Die Aufnehmenden,
Miriam T., Elsa U. und Jonas K. leben zusammen mit Amir K. in einer WG im Friedrichshain. Lara M. und Mira S. leben mit
Bedir O. in Mitte und Lena S. mit drei weiteren Mitbewohnern und Immanuel B. in
Kreuzberg. Die Aufnehmenden positionieren sich als linksorientierte Studierende und Studierte zwischen 25 und 30 Jahren.
Alle seien politisch interessiert, jedoch unterschiedlich aktiv:
Lena S. und ihre Mitbewohner unterstützen regelmäßig politisch motivierte
Gruppen, Miriam T., Jonas K., Lara M. und
Mira S. nehmen gelegentlich an Demonstrationen teil.
Die Aufnehmenden betonen, dass sie sich innerhalb der
kontrovers geführten Debatten um aktuelle Fluchtbewegungen solidarisch und hilfsbereit
zeigen wollen, indem sie Geflüchtete nicht ausgrenzen, sondern inmitten ihres
privaten Zusammenlebens aufnehmen. Um die darin präsenten ungleichen
gesellschaftlichen Positionen weitestgehend zu überbrücken, organisieren sie
die (Teil-)Finanzierung des Zimmers,[3]
gemeinsame Aktivitäten wie Einkaufen, Kochen und Essen sowie Zeit für die
Unterstützung des Geflüchteten beim Deutschlernen, in rechtlichen Fragen oder
auch beim Finden eines Jobs. Neben neuen organisatorischen Aspekten, ziehen nun
auch neue Perspektiven auf Themen wie Flucht, Asyl, Sprache und Arbeitsverbot in
die WGs. Für Jonas K. aus der WG in Friedrichshain war es „irgendwann auch
anstrengend immer über seine
Geschichte zu reden und [...] dass Amir so viel Aufmerksamkeit bekommt“ (Interview mit Jonas K. vom
06.04.2015). Trotz Bemühungen, einen gemeinsamen WG-Alltag aufzubauen, sind
diese gleichzeitig mit Anstrengungen verbunden. So zeigen sich ungleiche
Machtstrukturen von vornherein als wirksam:
„Allein,
dass Immanuel umsonst und temporär – quasi als Gast – bei uns wohnte, schwang
die ganze Zeit in der Interaktion mit. Das war vor allem dann klar, wenn wir
Nicht-Geflüchteten von ‚wir’ gesprochen haben und ihn damit nicht meinten“
(Interview mit Lena S. vom 12.05.2015).
Hier
deutet sich an, dass die von Amir K. genannten Kontrollen bzw. Grenzen auch in
die WG-Struktur einwirken. Dabei spielt die gesellschaftliche Figur des
Flüchtlings immer wieder eine Rolle, die nicht unproblematisch ist: „Der
Flüchtling“ steht dann wieder dem „Wir“ der WG gegenüber, das über das
Sprachliche Trennlinien faktisch ausdrückt und Gleichheit erschwert.
Des
Weiteren zeigt sich, dass das zur
Verfügung stehende Zimmer zwar den Einzug der Geflüchteten ermöglicht,
gleichzeitig aber bereits im Vorhinein festgelegt wird, wie sich das
Zusammenleben gestaltet und welche Rolle der Geflüchtete darin einnehmen kann:
„Insgesamt basiert das
Zusammenleben auf einer krassen Machtstruktur: Wir waren diejenigen, die ihm
gesagt hatten, er kann vorübergehend bei uns wohnen. Wir waren auch diejenigen,
die bestimmten, wann dieses ‚vorübergehend’ vorüber gehen soll. [...] Immanuel
hat und hätte uns, glaube ich, niemals gebeten, etwas an dem Zusammenleben in
der WG zu verändern“ (Interview mit Lena S. vom 12.05.2015).
Die Bereitschaft zur (Neu-)Aushandlung festgelegter Normen ist ein wichtiger Bestandteil
von Konvivialität. In Anlehnung an den Soziologen Peter
M. Blau (2005) wird hier jedoch eine spezifische Manifestierung von
Machtungleichheit sichtbar, die den WG-internen Aushandlungsprozess erschwert:
Das einseitige Geben versucht zum einen eine soziale Bande der
Freundschaftlichkeit zwischen Gleichberechtigten zu erzeugen, kreiert jedoch
zugleich Statusdifferenzen zwischen Aufnehmenden und Geflüchtetem. Diese
Situation wandeln den Austauschprozess „zwischen Gleichberechtigten in eine
Machtbeziehung zwischen Übergeordneten und Untergeordneten um“ (ebd., 134). So
betont Blau weiter, dass sich selbst interpersonale Beziehungen nicht per se
komplexen gesellschaftlichen Strukturen entziehen, sondern von immanenten
Machtverhältnisse beeinflusst sind und asymmetrische Beziehungsmuster reproduzieren
(können):
„Die
Sympathiekundgebungen für Flüchtende haben [...] einen einfacheren, aufbauenden
Kontext: Flüchtende sind bedürftig, brauchen Hilfe, die großzügig von
Mehrheitsdeutschen geleistet wird (die wiederum als Gegenleistung
verständlicherweise Dankbarkeit erwarten) – es ist klar, wer zuhause, wer
‚Gast’ ist, es gibt notwendigerweise keine Gleichwertigkeit.“ (El-Tayeb
2016, 17).
3.2. Der spezifisch Andere
„Warum
muss ich ein Flüchtling sein? [...] Die Leute hier müssen sagen, dass ich ein Flüchtling
bin und ich muss das auch sagen: ‚Ich, ich bin ein Flüchtling.’ [...] Ich weiß,
dass ich keiner bin, aber wenn du sagst, dass du es bist, dann verstehen die
Leute es: Du brauchst Hilfe. Und deswegen mache ich das auch“ (Interview mit
Bedir O. vom 30.04.2015).
Hier
zeigt sich, wie die Figur des Flüchtlings in verschiedenen Situationen immer
wieder an soziale Differenzen erinnert. Die Literaturwissenschaftlerin Susan Arndt verweist in
ihrem taz-Artikel „Kants ganz
anderer Kontinent“ vom 14.5.2015 auf die sich im gegenwärtigen Sprachgebrauch
immer noch entfaltenden kolonialen Erfindungen Afrikas. Dabei problematisiert
sie auch das Suffix -ling, das „immer eine diskriminierende Wirkung (wie in
Emporkömmling) [hat] oder [...] hierarchische Unterlegenheit aus[drückt] wie in
Schmetterling, der eben eines nicht tut: schmettern“ (Arndt 2015) – auch der Begriff
„Flüchtling“ ist ein kolonialistisch geprägtes Vokabular mit hierarchisierender
und diskriminierender Wirkung.[4]
Schließlich
werden die Geflüchteten auch dann als „spezifisch Andere“ markiert, wenn sie
exotisiert und homogenisiert werden:
Jonas K., der beruflich in Südafrika tätig war, erzählt beispielsweise, wie er
durch Amir K. „sofort an die Jungs erinnert [wurde], die dort für uns
gearbeitet haben. Und das fand ich irgendwie cool, so einen Spirit um mich zu haben“ (Interview mit
Jonas K. vom 06.04.2015). Wird das englische Wort „Spirit“ hier mit
„Temperament“ übersetzt, so erscheint das als typisch markierte Verhalten des
Anderen als kontrastierendes Spiegelbild eigener Subjektivität, es wirkt
homogenisierend wie essentialisierend (vgl. Rommelspacher 2009, 29) und
konstruiert Schwarzsein über das Körperliche und Kulturelle (Sow 2009, 81).
Laut Stuart Hall (1989) produziere eine solche Repräsentation einerseits die
Identität des Anderen und sichert andererseits eigene Identifikationen ab (ebd.,
919). Dies ist auch dann der Fall, wenn Schwarzsein durch Verkindlichung
verdinglicht wird und einer rationalen, erwachsenen und überlegenen
Eigensubjektivierung entgegengesetzt wird. Formen primitivisierenden Sprechens
mit und über schwarze Subjekte, wie in der Figur des schwarzen „Flüchtlings“
liest Frantz Fanon (1985, 24f.) in Schwarze Haut, weiße Masken nicht zuletzt als Ausdruck kolonialer
Beziehungsmuster. Er verweist auf ungleiche
Begegnungsmomente, die Schwarzsein als einen Ur-Gegensatz von Weißsein
etablieren.
Insgesamt wird hier Konvivialität, verstanden als Prozess, der
die Verflechtung zwischen der Gabe und
ungleichen Machtverhältnissen auszubalancieren und soziale Grenzen durch die
Dekonstruktion symbolischer Grenzen aufzubrechen versucht, durch die gesellschaftlich
konstruierte Position des „Schwarzen“ und des „Flüchtlings“ herausgefordert: Die Möglichkeit für die Geflüchteten sich zu diesen
machtvollen Positionen zu verhalten, bewegt sich im Spannungsverhältnis
zwischen Fremd- und Selbstzuschreibung ihrer gesellschaftlichen Position.
3.3. Der Fremde im Haus
Eine weitere Ebene des Machtverhältnisses
wird deutlich, wenn in den WGs die Themen (Homo-)Sexualität und Frauenbild
aufkommen. In der Kreuzberger WG spielt Sexualität eine Rolle, als die Beziehung zwischen „der weißen, femininen Unterstützerin und den
schwarzen Männern“ (Interview mit Lara M. vom 26.04.2015) thematisiert wird.
Dabei entstehe eine „gewisse Angst, dass die Männer mehr als nur eine
Unterstützerrolle suchen“ (ebd.). Mira S. sieht sich zwar nicht „in Gefahr, zu
etwas gezwungen zu werden“, doch es brauche „schon so dieses Gespräch“, um zu
erklären, dass die Beziehung zueinander nur auf „freundschaftlicher Basis“
bestehe: „Mit Bedir muss ich es vielleicht noch führen“ (Interview mit Mira S.
vom 26.04.2015).
Da der Umgang „hier“
zwischen Männern und Frauen „anders“ sei, als es in „anderen Kulturkreisen so
üblich ist, [...] ist es dann
einfach auch irgendwie natürlich, dass sich dann Gefühle entwickeln. Da sind
Leute, die auf dich zukommen, dich aufnehmen, herzlich mit dir umgehen [...]
und sie sind vielleicht auch gar nicht gewohnt, dass so ein Umgang stattfindet“
(ebd.). Lara M. ist der Meinung, dass dies
„eben die unterschiedliche Sozialisation zeigt“. So erklären sie die
Notwendigkeit eines erklärenden Gesprächs wie Zuschauende von außen mit der
Herkunft und dem Status des Geflüchteten:
„Der Geflüchtete strandet ja nicht nur als Fremder in einem
Land, sondern lebt als
Fremder in einem Land nur mit Männern zusammen, hat kaum Kontakt zu
Frauen, die aus dem eigenem Land oder Kulturkreis kommen und nur Kontakt mit
Frauen von hier“ (Interview mit Lara M. vom 26.04.2015).
Die Entwicklung von Gefühlen als „natürlich“ zu nehmen und die Betonung
der latenten „Gefahr“ der Grenzüberschreitung der freundschaftlichen Beziehung,
sexualisiert und bevormundet den schwarzen, männlichen Geflüchteten. Wieder stellt das „Wir“ ein Subjekt dar, das „hier“ verortet wird und rational
die Situation erklären kann, während „der Andere“ „dort“ ist, der emotional wahrgenommen
und zum Objekt der Situation wird. Das oben genannte binäre Denken in
antagonistischen Kategorien (rational/emotional) impliziert „immer bereits eine
Naturalisierung von wahrgenommenen Unterschieden zwischen dem Westen und dem
‚Rest’ sowie eine Hierarchisierung“ (Franzki/Aikins 2010, 13).
Und auch wenn nicht intendiert, spiegelt diese Annahme eine bestimmte
Denkstruktur des „Race-Sexualitätsdispositivs“ bzw. der „rassisierten“
Sexualität wider: „Die Sexualisierung von Blackness grenzt den schwarzen Mann
als von unzivilisierbaren Triebexzess gesteuert aus und erzeugt Whiteness als
Ort zivilisierter Sublimationsfähigkeit“ (Dietze 2013, 265). Der Dualismus weiß/schwarz erweitert sich durch die
zugeschriebene Zugehörigkeit der Geflüchteten zum so genannten muslimischen
Kulturkreis. Muslimisch-Sein bedeutet in diesem Kontext eher sexistisch zu
sein. Gleichzeitig
wird eine bestimmte „andere“ Weiblichkeit imaginiert: Die „Frauen von hier“ werden zum Gegensetz der „Frauen
aus dem Kulturkreis“ der Geflüchteten erklärt. Diese Gegensätzlichkeit verweist
auf ein bestimmtes Bild des weiß-feministischen Emanzipationsdiskurses, das Frauen
in muslimisch geprägten Gesellschaften per se als unterdrückt und untergeordnet
versteht (Cetin 2015, 35; Rommelspacher 1995).
In der WG in Mitte kommen ähnliche
Gesprächsformen vor: in „lustigen Diskussionen über Frauenbilder“. Lena S. bemühe sich „nicht
vom hohen Ross“ zu reden und
„Immanuel
ernst [zu] nehmen, aber es wird dann schwierig darüber zu reden, weil man
schnell urteilt [...] oder man redet moralisch und vergisst manchmal auch, wo
er herkommt [...] Vielleicht kann
man ihm versuchen, nahezubringen, wie es hier ist, ohne das, wie er
aufgewachsen ist, negativ darzustellen“ (Interview mit Lena S. vom 12.05.2015).
Das
Frauenbild des Geflüchteten wird mit seiner kulturellen Herkunft verknüpft – er
könne jedoch mit dem Frauenbild im europäischen Sinne zivilisiert werden. Hier
deutet sich implizit „der feste Glaube an die Überlegenheit ‚westlicher Werte’“
(El-Tayeb 2016, 19) an, der auch im nächsten Beispiel wirksam wird. Miriam T. aus der
Friedrichshainer WG erzählt:
„Ich hatte Angst, wie
[Amir] reagiert, wenn er das mit mir und meiner Freundin weiß. Da war ich
vorsichtig. Da dachte ich: entweder findet er das total geil [...] oder total
schlimm, so etwas macht man nicht und das geht nicht. [...] Irgendwann haben
wir es ihm gesagt und er meinte sofort: Ja, klar. Ok. [...]. Das war lustig,
weil er ganz gechillt damit umgegangen ist. Aber wir sind vor ihm auch nicht so
offen. Da ist schon ein bisschen Distanz oder Scheu. Ein bisschen anders, als
vor den Anderen. Daran muss man sich erst einmal gewöhnen“ (Interview mit
Miriam T. vom 23.04.2015).
Mit
Bezug auf das Konzept der Dominanzkultur der Soziologin Birgit Rommelspacher
(1995), die sich mit rassistischen, heterosexistischen und klassenspezifischen Dominanzverhältnissen
auseinandersetzt und versucht, den westlichen universalistischen
Gleichheitsanspruch zu dekonstruieren, verweist der Soziologe Zülfukar Cetin
(2015) auf die Entwicklung eines ‚antimuslimischen Homophobie-Diskurses’, den
er unter dem Begriff Homonationalismus (als eine Ausdrucksform der
Dominanzkultur) fasst. Dieser zeige, wie gerade gegenüber muslimischen
Gesellschaften die zunehmende Akzeptanz von Homosexualität ‚westlicher’ Staaten
als ’Zivilisationsüberlegenheit’ zelebriert werde, um gleichzeitig Homophobie
zu kulturalisieren, rassifizieren und klassifizieren (ebd.: 36; Dietze u.a.
2012). In Themen wie (Homo-)Sexualität, sexuelle Beziehungen und
Geschlechtervorstellungen äußert sich somit ein spezifisches Dominanzverhältnis
auf der Basis der zugeschriebenen Fremdartigkeit des Geflüchteten (vgl. Keskinkilic
in diesem Sammelband).
Dabei werden Herkunft und Religionszugehörigkeit auf spezifische Weise gedeutet:
Die Annahme, dass der Geflüchtete auf Homosexualität mit Ablehnung reagieren
könnte, basiert auf dessen Status als markierter Nicht-Europäer, dessen
kulturelle – muslimische – Herkunft sich von deutschen –
christlich/säkularisierten – Standards im Allgemeinen und von weißen WG-Normen
im Speziellen unterscheide. Die Annahme, dass eine spezifische Notwendigkeit
bestehe, dem Geflüchteten den Unterschied zwischen sexueller und
freundschaftlicher Beziehung zu erklären, basiert schließlich neben der
Markierung als Nicht-Europäer auch auf der Sexualisierung von Schwarzen (Dietze
2013; Fanon 1985).
3.4. Konviviale Ansprüche in der „Flüchtlingskrise“
Sich
im Kontext der so genannten „Flüchtlingskrise“ solidarisch und hilfsbereit zu
zeigen, ist eingebettet in einem komplexen Geflecht aus sozialer, politischer
und struktureller Ungleichheit, Ab- und Eingrenzungsprozessen. In diesem
Kontext bedeutet „Linkssein“ und Konvivialität, sich immer wieder im
Widerspruch zwischen Anspruch und Umsetzung wiederzufinden. Im Zusammenleben scheinen
weniger Fragen nach den materiellen/finanziellen Anforderungen der
Unterstützung die Aufnehmenden vor neue Herausforderungen zu stellen, sondern
viel mehr die Perspektiven und gesellschaftlichen Positionen der Geflüchteten. Die
WG in Friedrichshain erhebe beispielsweise den Anspruch, dass Amir K. „[in
Berlin] ein selbstbestimmtes und selbst gewähltes Leben [hat]. Eigentlich müsste er
in einem Camp außerhalb wohnen, hier macht er einen Sprachkurs und ist nicht
isoliert vom normalen gesellschaftlichen Leben“ (Interview mit Miriam T. vom 23.04.2015).
Dieser gemeinsame Anspruch bedeute für Miriam T., dass sich seit dem Einzug von
Amir K. nicht nur im Abstrakten damit beschäftige, „offen, alternativ und tolerant“
(ebd.) zu sein, sondern sich persönlich
darauf einlasse, ihren „normalen Alltag zu verändern“ (ebd.). Miriam T. beobachte
sich jedoch auch selbst dabei, wie mit Amir K. als schwarzer Geflüchteter auch
der „Abbau von Vorurteilen“ (ebd.) einhergehe: „In Deutschland fällt
einfach auf, wenn jemand schwarz ist. [...] Irgendwann wird es total egal, wie
Amir aussieht und man merkt, die sind
gar nicht anders“ (ebd.). Für Jonas K. ist die Aufnahme zu einem „Fallbeispiel“ geworden, „um Leuten zu zeigen, dass sie ihre Standpunkte
überdenken sollen“ (Interview
mit Jonas K. vom 06.04.2015). Er führe seit der Aufnahme des Öfteren
„Diskussionen mit Leuten, die nicht sofort so denken wie wir. [...] Da finde
ich mich sehr schnell in einer Verteidigungsrolle wieder“ (ebd.). Dennoch betont er,
dass sie sich als WG „eher von größeren Botschaften fernhalten [wollen], um
keinen Druck aufzubauen, dass das alles perfekt werden muss“ (ebd.). Elsa U. verbindet
schließlich die Aufnahme mit der generellen Frage, „auf welcher Ebene man
politisch sein will und inwieweit man die Politik in sein alltägliches Leben
herein lässt. Denn man kann ja auf Demos gehen oder spenden, aber da ist immer
eine Instanz dazwischen. Wohnen ist schon etwas anderes. Es ist einer der
privatesten Bereiche“ (Interview mit Elsa U. vom 27.02.2015).
Lara M. aus Mitte hebt
hervor, dass das Zusammenleben mit Geflüchteten einen „unheimlichen Mehrwert“ (Interview mit Lara M. vom 26.04.2015) habe, um
eigene Erfahrungen zu machen, dass die ankommenden Menschen „oft
ähnlich denken und [...] Kommunikation möglich ist. Es wäre schön, wenn mehr
Leute das sehen und verstehen und nicht nur diese Katastrophen-Situation im
Kopf haben“ (ebd.). Von
eigenen Erfahrungen zu erzählen, erweckt in Mira S. die Hoffnung, dass sich dabei
auch „das Verhalten oder die Denkweise zumindest bei ein paar Menschen
in Deutschland verändert“ (Interview mit Mira S. vom 26.04.2015). Mira S. beschäftigt aber auch ihr
eigenes Mitgefühl:
„Wenn man sich
um jemanden kümmert und Verantwortung übernimmt und nicht die Sicherheit hat,
dass dieser Mensch bleiben kann, [...] dann ist das auch ein emotionales Risiko
für mich“ (ebd.).
Während
die Mitbewohnenden in Mitte und Friedrichshain insbesondere die persönliche, zwischenmenschliche
und gesellschaftliche Bedeutung der Unterstützung betonen, hebt Lena S. aus
Kreuzberg die Relevanz ihrer „politischen“ Involviertheit hervor:
„Das Solizimmer ist ein Beispiel für materielle Solidarität,
das sicher notwendig ist. Ich glaube, es ist möglich und wichtig, dass
Nicht-Geflüchtete sich mit Geflüchteten solidarisch zeigen. Zu Solidarität
gehört für mich aber noch viel mehr dazu: Zum Beispiel, sich mit dem eigenen
Rassismus auseinandersetzen, Geflüchtete in ihrer politischen Arbeit zu
unterstützen, in Soligruppen aktiv sein. Teilweise tun wir diese Dinge aber
unser Zusammenleben mit Immanuel ging eigentlich nicht über die beschränkte
materielle Solidarität hinaus“ (Interview mit Lena S. vom 12.05.2015).
Ansprüche an die und Bedeutungszuschreibungen der Aufnahme
beziehen sich auf unterschiedliche Aspekte. Insgesamt wollen sich die
Aufnehmenden durch soziale wie materielle Unterstützung solidarisch und hilfsbereit zeigen, Geflüchtete
nicht ausgrenzen, sondern inmitten ihres privaten Zusammenlebens aufnehmen.
Dabei kommen auch immer wieder Fragen nach den eigenen Grenzziehungen
auf – wie viel
Verantwortung übernommen und welche Unterstützungsleistungen angeboten werden
wollen oder sollen.
Innerhalb
dieser Unsicherheiten und Ansprüche im Zusammenleben reproduzieren sich auch die
oben genannten auf kolonial geprägten Wissensformationen und Beziehungsmuster
basierenden Ungleichverhältnisse. Weiter herausgefordert werden die WG-internen
Beziehungen durch die stark polarisierten öffentlichen „Flüchtlingsdebatten“ und
restriktiven rechtlichen Rahmenbedingungen. Sie platzieren die Aufnahme von
Geflüchteten in den privaten Wohnraum an die Schnittstelle zwischen Legalität
und Illegalität sowie gesellschaftlicher Zustimmung und Ablehnung. Das
Zusammenleben geht somit einher mit persönlichen Abgrenzungsversuchen von
restriktiven Politiken, bei denen die strukturellen Ungleichheiten jedoch wirksam
bleiben:
„Seit Amir hier wohnt, kamen irgendwie viele andere Themen
auf mich zu. Meist merkt man ja erst in der Praxis, wie man selbst mit so etwas
umgeht. [...] Man will es besser machen als die Politik von oben. Aber manchmal
merkt man, dass man mit bestimmten Dingen auch zu kämpfen hat oder unsicher
ist“ (Interview mit
Elsa U. vom 27.02.2015).
4. Fazit: Zwischen Egalität und Hierarchie
Inwiefern spielen Macht und
Ungleichheit in der Willkommenskultur eine Rolle? In den WG-Konstellationen sammeln
sich komplexe Geflechte aus strukturellen Voraussetzungen, individuellen
Einstellungen und Erfahrungen, unterschiedlichen Wissensbeständen und Ansprüchen.
In sozialen Prozessen zwischen Menschen, die ungleiche gesellschaftliche
Positionen beziehen, wird dabei unweigerlich Machtungleichheit generiert. Somit
muss eine Untersuchung sozialer Beziehungen die „sozialen Kräfte mit
einbeziehen, die nicht in direkten face-to-face-Interaktionen
beobachtbar sind“ (Blau 2005, 133). Es bedeutet, dass sich Ungleichheit auch im
konvivial motivierten Zusammenleben konstituiert. In den
WGs sichern sich die Aufnehmenden als „Mehrheitsangehörige das Privileg, in der Norm zu leben und
ihre Normalität als verbindlich für die Anderen zu definieren“ (Rommelspacher 2009, 32). Damit erheben sie
(teils implizit, teils explizit) den Anspruch, Inhalt und Reichweite von
Konvivialität vorzugeben. So lassen sich ihre Bemühungen nicht nur auf der zeitlichen,
finanziellen oder räumlichen Ebene feststellen, sondern auch, wenn es darum
geht, die eigenen Normen und Positionen zu sichern. Die Fremd- und
Selbstbezeichnung als „Flüchtling“
produziert dabei automatisch ein Dominanzverhältnis seitens der
Aufnehmenden. In den aufgezeigten Beispielen verdeutlichen sich tief verankerte
kolonial geprägte Wissensbestände, die zur Essentialisierung und Kulturalisierung
der Verhaltensweisen wie Haltungen der Geflüchteten beitragen und ihre
Ausgrenzung bewirken. Im multikulturalistischen
Sinne stellt sich dabei das „Wir“ der Aufnehmenden als homogene Gruppe und Handelnde mit „kolonialem Überlegenheitsgestus“ (Römhild/Westrich 2013, 4) dar.
Beispielsweise dann, wenn der Anspruch
erhoben wird, dass sich der Geflüchtete den Denk- und Handlungsweisen der
bestehenden WG anzupassen hat. Der Prozess der Essentialisierung und
Kulturalisierung dient schließlich auch dazu, dass das daraus resultierende
Machtverhältnis legitimiert wird, normal und plausibel erscheint. Dabei verfolgen die Aufnehmenden eine ambivalente
Logik „zwischen
Egalitätsvorstellungen und Hierarchieinteressen“ (Rommelspacher 2009, 34). Für die
so genannte Willkommenskultur zeigt dies, dass koloniale Wissensbestände auch die
darin hergestellten sozialen Beziehungen prägen: wenn Geflüchtete infantilisiert, bevormundet, sexualisiert oder exotisiert werden. Hier wird die Kritik von Sara Ahmed
(2004) an Paul Gilroy zentral: In einer zutiefst rassistischen Gesellschaft sei
ein Denken jenseits von race utopisch
und wird im Gegensatz zu Gilroys Behauptung alles andere als obsolet, denn als
soziale Konstante kreiert race soziale
Tatsachen (ebd., 48). Race – verstanden
als Produkt von Zuschreibungen kollektiver quasibiologischer und/oder kultureller
Eigenschaften einer Person – legitimiert weiterhin „die Wahrnehmung bestimmter
Gruppen als nicht zugehörig [...], auch wenn sie bereits Teil der Gesellschaft
sind“ (El-Tayeb 2016, 15). Des Weiteren weist Rassismusforscherin Philomena
Essed (2008) in ihrem Konzept „Everyday Racism“ darauf hin, dass Rassismus häufig stark kodiert
als gewöhnliches gesellschaftliches Verhalten existiert und nicht ein
singulärer Akt in sich ist, sondern die Akkumulation kleiner (weniger auffallender)
Ungleichheiten (ebd., 448).
Im
Kontext dieser Überlegungen muss sich aber nicht nur die Frage nach
Ungleichheit in der deutschen Willkommenskultur, in der die Geflüchteten mit bedeutenden Hilfen versorgt werden, sich
Verpflichtungen ansammeln und eine einseitige Abhängigkeit erzeugt wird, weiter gestellt werden. Sondern
es geht auch um die Frage, inwiefern und unter welchen Rahmenbedingungen Solidarität zwischen
Mehrheitsgesellschaft und Minderheit praktiziert werden kann. Hier geht es insbesondere
darum, wie die in Deutschland
ankommenden Geflüchteten nicht nur den politischen Status, sondern auch die
gesellschaftlichen Selbst- wie Fremdwahrnehmungen als Flüchtling, die mit
sozialen und symbolischen Grenzziehungen einhergehen, überwinden und wie die
konvivialen Ansprüche der Unterstützenden tatsächlich umgesetzt werden
(können).
Das Konzept der Konvivialität
kann für diese Analyse sehr nützlich sein, wenn der Aspekt der Ungleichheit mit
im Fokus bleibt. Denn die daraus resultierenden Machtverhältnisse
spiegeln eine weitgreifende Gesellschaftsdynamik in Europa wider. Die
unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen zwischen schwarzen Geflüchteten
und weißen Unterstützenden fordern das Zusammenleben heraus und zeigen: Konvivialität findet eben nicht in einem Vakuum
statt, sondern ist eingebettet im postkolonialen Raum.
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aufgerufen am 22.4.2016.
[1] „schwarz“ und „weiß“ bezeichnen keine phänotypischen
Differenzierungsmerkmale, sondern im Kontext des Kolonialrassismus ideologisch
konstruierte ,Hautfarben’, die Menschen innerhalb einer Gesellschaft
zugeschrieben werden (Arndt 2005).
[2] Insgesamt wurden sieben Aufnehmende und drei Geflüchtete interviewt. Für
die aufgeführten interviewten Personen verwende ich Pseudonyme.
[3] Außer Amir K. stehen
für Bedir O. und Immanuel B. keine eigenen Zimmer zur Verfügung, sondern sie
sind auf die Organisierung von freien Schlafmöglichkeiten
innerhalb der WG angewiesen. Nachdem es in der WG von Immanuel B. zu
Unstimmigkeiten über Privatsphäre und Aufnahmedauer kommt, bitten die
Aufnehmenden ihn auszuziehen. Er zieht zu Bekannten in Berlin.
[4] Siehe dazu u.a.:
http://www.sprachlog.de/2012/12/01/fluechtlinge-und-gefluechtete/, aufgerufen
am 22.4.2016.
Autorin
Leoni Johanne Meyer
Neben der Frage, welche gesamtgesellschaftlichen Machtstrukturen in der so genannten „Willkommenskultur“ wirksam sind, motivierte mich zur Forschung insbesondere die Involviertheit linkspositionierter Menschen darin. Währenddessen setzte ich mich kritisch mit meiner eignen Rolle als weiße, linke Wissenschaftlerin auseinander. Insgesamt beschäftige ich mich mit dem Problem, wie und unter welchen Rahmenbedingungen Mehrheitsgesellschaft und Minderheit über Möglichkeiten der Solidarität nachdenken, diskutieren können.
Leoni Johanne Meyer studiert am Institut für Europäische Ethnologie, B.A.
Bitte diesen Beitrag wie folgt zitieren:
Leoni Johanne Meyer (2016): "Refugees Welcome" in Berliner Wohngemeinschaften. Konvivialität und Ungleichheit. In: Gökce Yurdakul, Regina Römhild, Anja Schwanhäußer, Birgit zur Nieden, Aleksandra Lakic, Serhat Karakayali (Hg.): E-Book Project of Humboldt-University Students: Witnessing the Transition: Refugees, Asylum-Seekers and Migrants in Transnational Perspective. Preview (Weblog), https://www.blogger.com/blogger.g?blogID=863130166696833325#editor/target=post;postID=3697950972162993466;onPublishedMenu=allposts;onClosedMenu=allposts;postNum=0;src=link
Bitte diesen Beitrag wie folgt zitieren:
Leoni Johanne Meyer (2016): "Refugees Welcome" in Berliner Wohngemeinschaften. Konvivialität und Ungleichheit. In: Gökce Yurdakul, Regina Römhild, Anja Schwanhäußer, Birgit zur Nieden, Aleksandra Lakic, Serhat Karakayali (Hg.): E-Book Project of Humboldt-University Students: Witnessing the Transition: Refugees, Asylum-Seekers and Migrants in Transnational Perspective. Preview (Weblog), https://www.blogger.com/blogger.g?blogID=863130166696833325#editor/target=post;postID=3697950972162993466;onPublishedMenu=allposts;onClosedMenu=allposts;postNum=0;src=link
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