Von Elisa Hänel, Stefanie Kofnyt, Charlotte Seiler
Fotografie: Christian Mang. Ein Abend am LaGeSo. November 2015 |
Einleitung
„Wieder
mit Tee, Keksen, Bananen, Sonnenblumenkernen vorm LaGeSo im Nieselregen. Viele
Geflüchtete liegen auf dem Bürgersteig in Decken gehüllt. Wir verteilen das
Mitgebrachte und kommen ins
Gespräch mit einer Gruppe von drei Männern. Der eine ist sehr kommunikativ,
zeigt mir Fotos auf dem Smartphone und macht direkt ein Bild von uns, um es
seiner Familie in Syrien zu schicken. Er scheint viele Menschen hier zu kennen,
sowohl Geflüchtete als
auch ehrenamtlich Helfende. Ich würde gern wissen, wie lange er schon hier ist,
aber die Kommunikation ist etwas schwierig, da ich kein Arabisch spreche. Mit
ein paar englischen Wörtern schlagen sich alle ganz gut durch und die wenigen arabischen Wörter, die wir kennen,
kommen gut an, brechen das Eis. Der zweite aus der Gruppe, ein junger Syrer, 21
Jahre alt, erzählt uns von seiner Geschichte: ,No
mum no dad… boum!‘, er macht eine
Handbewegung, die eine Explosion darstellen soll. Er lacht nervös. Der Dritte schaut
ernst zu ihm: ,There is a problem, also here in Berlin.‘ Er wirkt sehr interessiert und als würde
er sich viele Gedanken machen, aber auch frustriert von den Bedingungen vor dem
LaGeSo.“ (Feldtagebuch vom 16.11.2015)
Das Landesamt für
Gesundheit und Soziales (LaGeSo) hat im Verlauf des Jahres 2015 öffentliches Aufsehen erregt.
Viele Menschen, die in den letzten Monaten aus ihrer Heimat aufgrund von Krieg und
Gewalt flüchten mussten, kamen unter schwierigen Umständen nach Europa. In
Berlin angekommen war die erste Anlaufstelle das LaGeSo, wo sie auf Papiere,
finanzielle Unterstützung und eine Weitervermittlung in Wohnungen und
Flüchtlingsheime hofften. Durch den wachsenden Strom der Geflüchteten war die
Behörde mit der Betreuung der Anliegen überfordert. Monatelang
sorgte das Chaos vor dem LaGeSo bundesweit für mediale Aufmerksamkeit und die Behörde erfuhr Kritik aus
politischer und zivilgesellschaftlicher Richtung. Dies führte im Dezember 2015 zum Rücktritt des
LaGeSo Chefs Franz Allert. Die Aufnahmen der langen Warteschlangen vor dem
Gebäude machten in der nationalen und internationalen Presselandschaft die
Runde und standen den ersten euphorischen Eindrücken der deutschen Willkommenskultur[1] komplementär gegenüber.
Die Überforderung des LaGeSos führte zu wochenlangen Wartezeiten der Geflüchteten unter
prekären Bedingungen, weshalb viele Anwohner_innen ehrenamtliche Hilfe anboten.
Fragestellung
Im Rahmen eines Seminars mit dem Schwerpunkt Stadtforschung am
Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin,
untersuchten wir die Atmosphäre vor dem LaGeSo. Besonderes Interesse galt der
Frage, wie sich die Geschmackslandschaft vor dem LaGeSo durch die Geflüchteten verändert hat.
Geschmackslandschaften sind laut Rolf Lindner und Lutz Musner „historisch gewachsene städtische Räume“,
die „ein spezifisches Flair, eine Aura bzw. ein urbanes Imago ausstrahlen“ (Lindner/Musner 2005, 33). Das Umfeld als
Geschmackslandschaft wahrzunehmen befähigte uns, die schnellen stadträumlichen
Veränderungen zu registrieren
und die Fülle der Eindrücke zu einem Bild zu verdichten. Ein Fokus lag auch auf
der Frage, wie die Szene und die Szenerie am LaGeSo von den Geflüchteten
beeinflusst wurde. Szenen entstehen, wie Alan Blum beschreibt, im städtischen
Kontext um ein Projekt herum, in informellen Strukturen: „The
scene is both symbolic order and imaginative
structure, a locus of collectivization and a catalyst of problem solving.“ (Blum 2001, 33) Die Szene braucht den
städtischen Raum und lebt hier im Öffentlichen das Private aus. Sie ist eine
Form der Aneignung von Lebensraum und Intimwerdung mit den öffentlichen Strukturen. Durch die
Annäherung an eine Szene wird der öffentliche Raum für die Akteure gestaltbar und vertraut, ein
Zugehörigkeitsgefühl entsteht und dem Wunsch nach Eigengestaltung kann
nachgegangen werden. Wir betrachteten die Geflüchteten und Helfenden als
Akteure einer Szene, die sich rund um das Warten, Ausharren und Helfen
herausbildete. Hier beobachteten wir zum einen die Abläufe, Besonderheiten und
Umgangsformen; zum anderen untersuchten wir den Umgang mit sozialen Medien und Smartphones.
In Zeiten, in denen Twitter, Facebook und Instagram zu wichtigen und alltäglichen
Informationsquellen für viele Menschen geworden sind, dienen soziale
Plattformen nicht nur der Unterhaltung. Smartphones spielen auf der Flucht eine wichtige Rolle als mobile
Geräte, die über Fluchtrouten informieren und mit denen der Kontakt zu Familien und Freunden
aufrecht erhalten werden kann. Auch in der Alltagskommunikation sind die
Smartphones als Sprachübersetzer wichtig. Sie stellen also gleichzeitig eine
digitale Verbindung mit
dem Zurückgelassenen her und ermöglichen
den Zugang zu den neuen Umgebungen, in denen sich die Geflüchteten aufhalten.
Auf diese raum- und zeitüberbrückende Funktion des Smartphones, das eine
Verbindung zwischen Altem und Neuem herstellt, bezieht sich der Titel dieser
Arbeit. Sonnenblumenkerne stehen hier symbolisch für die Tradition, die die
Geflüchteten mitbringen, für die Erinnerungen und Kulturen. Die Sonnenblumenkerne,
die wir vor dem LaGeSo an die Wartenden verteilten, lösten während unserer Forschung immer wieder
positive Reaktionen aus und brachten uns so ins Gespräch mit den Geflüchteten.
Das Smartphone ist den Sonnenblumenkernen als Kulturvermittler gegenübergestellt.
Gemeinsam stehen die Begriffe symbolisch für die Veränderungen, die durch den
interkulturellen Austausch stattfinden.
Auch für die ehrenamtlich Helfenden übernehmen die Smartphones
und die digitalen Netzwerke eine wichtige Funktion. Mit den steigenden Zahlen
Geflüchteter war der Staat bundesweit auf ehrenamtliche Hilfe angewiesen und hätte ohne sie
den Zuzug kaum bewältigen können. Die Hilfe wurde zum Teil über soziale Medien organisiert,
was eine neue Form gesellschaftlichen Engagements darstellt. Im Gegensatz zu der
klassischen Vereinsarbeit entstand hier als direkte Reaktion auf eine sich schnell
verändernde Situation eine neue Art der organisierten Hilfe. Ehrenamtliche können sich nun online, ohne langfristig
Verantwortung zu übernehmen, flexibel für Helferschichten eintragen. Das
Forschungsprojekt beschäftigte sich mit der Bedeutung von privat organisierten
Gruppen auf Facebook und anderen Internetseiten in dieser Situation.
Aufbau
Um herauszufinden, wie sich die Geschmackslandschaft am LaGeSo
veränderte, führten wir teilnehmende Beobachtungen (Lindner 1981) durch. Teilnehmen bedeutete
in diesem Feld, sich dem Rhythmus der wartenden Geflüchteten anzupassen, das
heißt, ebenfalls herumzuhängen (Schwanhäußer
2015). Wir erkundeten während
ausgedehnten Wahrnehmungsspaziergängen die Umgebung und notierten Veränderungen, wobei wir
uns für die Möblierung der Stadt, Objekte und Zeichen, die auf die Präsenz der
Flüchtlinge hinwiesen, interessierten. Es beschäftigten uns jedoch nicht nur
die materiellen Veränderungen, sondern auch die Atmosphäre am LaGeSo, die Geschmackslandschaft und die Menschen
und Passanten, die sich dort aufhielten. Als Grundlage für unser methodisches
Vorgehen dienten Jens Wietschorkes Überlegungen zur Atmosphärenforschung (Wietschorke 2010). Wietschorke greift das
Konzept der
Geschmackslandschaften auf und wendet es auf die ethnografische Methode an, wodurch eine
„ethnographische Erschließung von urbanen ‚Räumen der Konsumtion‘“ (Ebd., 153) entsteht. Konsum wird
hier nicht nur im materiellen Sinne verstanden sondern bezieht sich auch auf
das Konsumieren einer Atmosphäre.
Dadurch, dass ein „Ort im Raum“ (Ebd., 151) besetzt wird, wird dieser Raum und
dessen Atmosphäre konsumiert. Die ethnografische Methode befähigt den Forschenden dazu, die
„Verräumlichung des symbolischen Kapitals“ (Ebd., 164), herauszuarbeiten. Es können somit die
besonderen Eigenheiten, die speziellen Geschmackslandschaften, die einen
bestimmten Stadtraum ausmachen, dokumentiert
werden. Wir beteiligten uns zudem an der Aktion Tee vor dem LaGeSo[2], um diese Szene der Wartenden und Helfenden besser
zu verstehen. Tee vor dem LaGeSo ist eine privat organisierte Gruppe von
Helfenden, die sich über Facebook organisieren und abends und nachts an die
Wartenden Tee und Snacks verteilen. Wir wurden Mitglieder der Gruppe und
bekamen so einen umfassenderen Blick auf die Geschmackslandschaft. Uns als Forschenden begegneten
hierbei dieselben Probleme wie jenen, die von Außen kommen und helfen möchten. Unsere Erfahrungen geben somit
auch einen Einblick in die Zugänge des Helfens. Über die Erfahrungen mit der
Gruppe Tee vor dem LaGeSo lernten wir, was es bedeutet, mit Flüchtlingen über
eine Facebook-Gruppe in Kontakt zu treten.
Herumhängen
Durch Aufenthalte auf
dem LaGeSo-Gelände und Spaziergänge entlang der umliegenden Straßen entstand
mit der Methode des Herumhängens (Schwanhäußer 2015) zunächst ein Bild des sich
stark verändernden Stadtraums. Im Rahmen der Forschung versuchten wir die
Atmosphäre des Gebietes festzuhalten. Gernot Böhme beschreibt die
Atmosphäre einer Stadt als „...die subjektive Erfahrung der Stadtwirklichkeit, die die
Menschen in der Stadt miteinander teilen.“ (Böhme 1998,162) Hierbei spielen nicht nur die verschiedenen Lebensformen und
das subjektive Empfinden eine Rolle, sondern auch die historische Tiefe, der
Geruch und die besondere Akustik, die Klanglandschaft (Ebd.,158f) des Stadtraumes. Um
diese sich verändernde
Stadtwirklichkeit wahrzunehmen, achteten wir während unserer Forschung auf die
verschiedenen atmosphärischen Aspekte, durch die wir die besondere
Geschmackslandschaft herausarbeiteten.
Vormals ein Ort, der
abseits vom Geschehen lag, entwickelte sich der Teil der Turmstraße, an dem
sich das LaGeSo befindet, durch die Geflüchteten zum neuen Mittelpunkt des
politischen Geschehens in
Berlin. Dies ließ sich deutlich am materiellen stadträumlichen Wandel erkennen.
Während mehrerer Wahrnehmungsspaziergänge fotografierten wir, um die materiellen Veränderungen des
Stadtraumes festzuhalten. Wir sahen diese Spaziergänge in Anlehnung an als
ethnografische Methode zur Erforschung der Geschmackslandschaft. Durch das
Fotografieren und das gleichzeitige Festhalten der Beobachtungen in den
Feldtagebüchern konnten wir die Entwicklungen dokumentieren. Eine anfängliche
Zurückhaltung während des Fotografierens legte sich bald, als wir die
Omnipräsenz der Smartphones realisierten. Viele der Geflüchteten fotografierten
selbst die Situation und hielten, wie in späteren Gesprächen im Feld zutage
kam, den Zustand mit ihren Handykameras fest. Besonders auffällig war die
gestiegene Anzahl der Menschen, die sich täglich vor Ort aufhielten. Abbildung
eins zeigt die Lage vor dem LaGeSo im Dezember 2015: Die Geflüchteten reihten
sich schon früh am Tag in die Schlange ein, die sich vor dem Tor zum Innenhof
des LaGeSos befand. Abgetrennt vom Bürgersteig durch Sicherheitszäune standen
die Wartenden bis in den frühen Morgen hinein unter freiem Himmel. Oft waren
mehrere Hundert Geflüchtete vor Ort. Das Tor zum LaGeSo-Gelände wurde um vier
Uhr früh geöffnet, woraufhin die Menschen weiter auf dem Hof und in den
wenigen Wartezelten auf den Einlass in das Hauptgebäude hofften. Da täglich zu
viele Termine vergeben wurden, warteten die Geflüchteten oft mehrere Tage und
Nächte hintereinander, um bei den Angestellten vorsprechen zu können. Hierdurch entstand
eine große Sichtbarkeit, was manche Anwohner_innen berührte und sie zum Helfen
bewegte, sodass zu vielen Tages-
und Nachtzeiten Helfende vor Ort waren.
Wartende vor dem LaGeSo. Dezember 2015 © Charlotte Seiler |
Die sich ständig verändernde Lage am LaGeSo machte sich
nicht nur im unmittelbaren Umfeld bemerkbar. Bereits rund um den U-Bahnhof
Turmstraße, der in einiger Entfernung zum LaGeSo liegt, fiel die Sprachenvielfalt
auf. Gruppen von Geflüchteten waren unterwegs, oft ausgestattet mit
Klarsichthüllen, in denen die Dokumente zur Registrierung und Beantragung von
Hilfsleistungen aufbewahrt wurden. In den umgebenden Straßen lagen in
Hauseingängen immer wieder zurückgelassene silber-goldene Wärmefolien, die den
Wartenden im Winter als Schutz gegen die Kälte dienten. Die Serviceökonomie rund um das
LaGeSo passte sich schnell den neuen Anforderungen an. Aushänge an Hauswänden
wiesen seit dem Sommer 2015 auf Arabisch den Weg zu Sprachschulen, die
Deutschkurse für Geflüchtete anboten. Einige Restaurants, Imbisse und Kioske in
unmittelbarer Umgebung des LaGeSos bewarben ihr Angebot nun auf Arabisch.
Besonders beliebt schienen Handyverträge mit Auslandsflatrates zu sein. Aufsteller
für Anrufpakete in die arabische Welt waren teilweise vollständig auf Arabisch
verfasst (siehe Abbildung zwei).
Handywerbung auf der Turmstraße. Dezember 2015 © Charlotte Seiler |
Immer wieder fand sich
auch eine kleine Vertretung der Zeugen Jehovas ein, die ihre Broschüren in arabischer
Sprache anboten. Auch auf dem LaGeSo-Gelände waren Aushänge mehrsprachig
verfasst. Um die Kommunikation zusätzlich zu vereinfachen, entwickelten Ehrenamtliche ein System
von Piktogrammen, die den Hilfesuchenden den Weg wiesen (Abbildung drei). Eine Spritze
stand hier für das Erste Hilfe Zelt, ein Zettel mit einem Regenbogen und einer
schwangeren Frau zeigte den Weg zu der Anlaufstelle für besonders Schutzbedürftige. Das Gelände wurde
dadurch zugänglicher und übersichtlicher und ermöglichte es auch
Analphabet_innen sich zu orientieren.
Piktogramme auf dem LaGeSo Gelände. Dezember 2015 © Charlotte Seiler |
Der folgende Auszug aus
unserem Feldtagebuch vermittelt die ersten Eindrücke, die im November 2015 im Feld
gesammelt wurden:
„Der erste Gedanke, der
mir in den Sinn kommt, ist jetzt wo das Wetter trocken ist, geht das noch, aber
was passiert wenn wir in Kürze Schnee und Regen haben?[3] Die Kleidung der
Flüchtlinge ist bunt zusammengewürfelt, manche haben keine richtigen festen
Schuhe, viele der Männer und Frauen sind noch mit einem T-Shirt und einer etwas
dickeren Strickjacke
gekleidet, manche versuchen sich mit Kapuzenpullovern, Mützen und Jacken gegen
die Kälte zu schützen, wobei die Kinder meist gut eingepackt sind. Zwischendrin immer wieder
Mitarbeiter_innen der Security-Firmen, die den Wartenden Anweisungen geben.
Alle warten, kampieren, sitzen herum, reden miteinander, manche haben sich
kleine Iglu-Zelte aufgestellt, wie man sie sonst in Vorgärten als Spielort für
Kinder sieht. Hier dienen sie vor allem für die kleinen Kinder als
Witterungsschutz. Ich schaue in die Gesichter der Menschen, viele sehen erschöpft aus, haben
Augenringe. Aber sie scheinen die Hoffnung nicht aufzugeben.“ (Feldtagebuch vom 30.10.2015)
Die ersten Feldzugänge lösten bei uns den Wunsch
aus, die Atmosphäre vor dem LaGeSo näher zu erkunden. Wir wandten uns zuerst an
die Angestellten der Security Firma um zu fragen, wie wir helfen könnten und ob etwas
konkret benötigt werde. Anfänglich wurden wir mit der Begründung, „Der Staat
sorgt schon gut für alles.“ abgewiesen. Erst nach wiederholtem Nachfragen verwiesen
sie uns in den hinteren Teil des Geländes, in dem sich die Zentrale von Moabit Hilft[4] befand. Moabit Hilft
ist eine Gruppe engagierter Anwohner_innen, die sich zusammenschlossen, als
sich die Zahl der am LaGeSo ankommenden Geflüchteten erhöhte. Die Gruppe, die
sich zunächst privat und über das Internet organisierte, reagierte so auf die
prekäre Lage der Wartenden, die meist mit wenig Gepäck in Berlin ankamen. Daher
wurden zunächst Geld- und Sachspenden gesammelt. In den Räumen der Initiative
konnten und können auch heute noch Kleider, Hygieneartikel und Drogerie-
beziehungsweise Supermarktgutscheine abgegeben werden. Ende 2015 wandelte sich die
Bürgerinitiative in einen gemeinnützigen Verein, wodurch die Strukturen verfestigt wurden und
die Hilfe noch sicherer gewährleistet werden konnte. Wir nahmen die Helfenden und
Geflüchteten vor dem LaGeSo als Szene (Blum 2001) wahr, die sich als dynamisches, temporäres Netzwerk
als Antwort auf die aktuelle Problematik bildete. Eine Szene ist, wie oben
beschrieben, eine Gruppierung von Menschen, die den öffentlichen Raum für ein
bestimmtes Projekt nutzt. Vor dem LaGeSo zeigte sich diese Intimwerdung mit dem
Öffentlichen an den informellen Strukturen, die entstanden. Die Wartenden
lebten in völliger Öffentlichkeit auf dem
Bürgersteig und gemeinsam mit den Helfenden entwickelten sie eigene Abläufe und
eigneten sich damit den Raum informell an. So wurden zum Beispiel nachts kleine Tische zur Essens-
und Teevergabe aufgestellt, um die herum sich Gesprächsgruppen bildeten. Einige
Helfer_innen waren fast täglich vor Ort, gekennzeichnet durch grüne Warnwesten
von dem Verein Moabit
Hilft. Sie fungierten so als Ansprechpartner für die Geflüchteten und
Helfenden. Durch
Gespräche mit Geflüchteten und Helfenden vor Ort wurden wir aufmerksam auf die
Initiative Tee vor dem LaGeSo. Helferschichten wurden hier bedarfsorientiert über das
Internet verteilt, um so eine Betreuung und Versorgung der Geflüchteten zu
gewährleisten.
Teilnehmende
Beobachtung
Die private
Facebook-Gruppe Tee vor dem LaGeSo wurde am 15.9.2015 von einer Anwohnerin gegründet. Die
Mitgliederzahl wuchs stetig und betrug am Ende unserer Forschung im
darauffolgenden Februar 592 Mitglieder. Diese konnten sich täglich für
halbstündige Schichten eintragen, in denen sie an die Wartenden Tee verteilten,
welcher von den Helfenden privat zubereitet wurde. Schichten wurden je nach Bedarf zwischen
18:00 Uhr und ein Uhr nachts übernommen. Über die Facebook-Pinnwand trugen wir
uns zwischen Oktober und Januar unabhängig voneinander in Schichten ein,
verabredeten uns einige Male aber auch gemeinsam, um teilnehmend zu beobachten.
Diese Methode ermöglichte es uns das Feld nicht nur sehend zu betreten, sondern
auch handelnd zu erfahren, was laut Lindner zu einer Veränderung der
Wahrnehmung führt. Teilnehmende Beobachtung definiert er als einen Interaktionsprozess, durch
den sich die Forschenden in einen Lernprozess begeben, in dem eine
Identifizierung und somit auch ein besseres Verständnis mit den Ansichten und
Standpunkten der Untersuchungsgruppe möglich ist (Lindner 1981, 63ff). Nachdem wir uns durch
das Herumhängen bereits die
Atmosphäre des Feldes erschlossen hatten, ergänzten wir unsere Eindrücke durch die aktive
Teilnahme an der Szene von Geflüchteten und Helfenden, wodurch wir einen
umfassenden Eindruck der gegenwärtigen Geschmackslandschaft erhielten. Gerade in den
Wintermonaten herrschte am Abend großer Bedarf an wärmenden Getränken, Essen
und auch Kleidung, denn die Menschen wurden in den Abend- und Nachtstunden ab
18:00 Uhr von keiner staatlichen Institution unterstützt. Exemplarischen
Einblick in unsere Forschung soll an dieser Stelle ein Erfahrungsbericht vom
26.11.2015 geben.
Wartende nachts vor dem LaGeSo Berlin. November 2015 © Christian Mang. |
Vor dem Eingang zum
Gebäudekomplex befand sich bei unserer Ankunft um 21:30 Uhr eine Schlange
wartender Männer jeden Alters. Frauen und Kinder wurden in besonders kalten
Nächten auf Anfrage der freiwillig Helfenden gesondert in einem Wärmezelt
untergebracht. Vor dem Gebäude parkten drei privat finanzierte Reisebusse, in
denen die Wartenden die Möglichkeit hatten sich aufzuwärmen und etwas zu schlafen.
Zwischen zwei bis drei Uhr nachts sollte es nach der Aussage des Betreuers der
Busse einen weiteren Zustrom Geflüchteter geben, denn um vier Uhr würden auch die Männer Einlass in
ein Wärmezelt erhalten und dort sei der Platz in der Schlange für die
Teminvergabe des Folgetages entscheidend. Wir brachten mehrere Liter Tee,
Zuckerwürfel, einige Packungen Kekse, Datteln, Bananen und Sonnenblumenkerne
mit. Die Temperaturen in dieser Nacht lagen leicht über dem Gefrierpunkt, zudem wehte ein
eisiger Wind. Ein Auszug aus unserem Feldtagebuch verdeutlicht die Zustände vor
Ort:
„Es schneit,
Temperaturen um die null Grad. Es ist voll vor dem LaGeSo. Wie so oft stehen
die Menschen Schlange vor der Absperrung, die erst um vier Uhr aufgemacht wird.
Kein Wetterschutz. Sie stehen so dicht gedrängt, dass die Wartenden vorne gegen
die Gitter gepresst werden. Hauswand, Menschen, Absperrzaun, etwas Freiraum,
ein weiß-rotes Absperrband, dann Polizisten, Bürgersteig (auch voll mit
Geflüchteten und freiwillig Helfenden), Straße. Eine klare Abgrenzung der
Bereiche, überwacht von den Polizisten, die angespannt wirken und mit radebrechendem Englisch versuchen, den
Neuankömmlingen das Schlangensystem zu erklären. Eingepfercht wie
Tiere. Einige Menschen sind schon krank, haben fiebrige Augen und kaum Energie,
um die Zuckerwürfel in den Tee zu
tun. Bei unserer Ankunft stehen bereits viele der Geflüchteten mit Pappbechern
in der Hand herum. Vor dem Gebäude neben der Bushaltestelle knien zwei Helfer
mit ihren Thermoskannen und es gibt auch einen „Stand“ bestehend aus einem
Campingtisch, auf dem später heiße Suppe verteilt wird. Wir gehen die Schlange
auf und ab, fragen immer wieder, ob noch jemand ,Chai’ möchte. Wichtig ist der Zucker.
In den letzten Wochen habe ich ein paar arabische Wörter gelernt, die ich
immer wieder anbringe, was oft zu witzigen Gesprächen führt. Sehr oft werde ich
angelächelt und angelacht. Es ist erstaunlich wie offen und positiv einige noch
sind trotz der schrecklichen Lage. Einer sagt: ,You
are good but the social system is bad.‘ Im Gegensatz zu dem Syrer, der mich beim letzten Mal angeklagt hat: ,Why
don’t
you change anything?‘, differenziert der Mann zwischen den Ehrenamtlichen und dem Staat.“ (Feldtagebuch vom 26.11.2015)
An der Situation vor Ort
zeigte sich die zu der Zeit effiziente Funktionsweise der Facebook-Gruppe. Am
späten Abend schienen die Geflüchteten durch die Helfenden gut versorgt zu
sein, wobei die Schichten nach Mitternacht oft schwieriger zu vergeben waren.
Mittlerweile ist ein allgemeiner Rückgang des Engagements im Feld zu erkennen,
worauf wir innerhalb der Internetanalyse genauer eingehen werden. Der Tee
diente oft nicht nur zum Aufwärmen des Körpers, sondern ebnete
den Weg für Gespräche und kulturellen Austausch. Durch das Austeilen der
Getränke bekamen wir als Helfende Zugang zu den Wartenden und es konnten
Kontakte geknüpft werden. Obwohl der von uns mitgebrachte Tee bereits gesüßt
war, wurden jedem Becher zusätzlich bis zu acht Stück
Würfelzucker zugefügt,
einige der Geflüchteten aßen den Zucker auch pur als energiegebenden Snack.
Während der Tee auf eine ruhige routinierte Weise entgegengenommen wurde, erfreuten sich Obst,
Datteln und die Sonnenblumenkerne großer Beliebtheit. Nach drei Minuten waren die
gesamten Lebensmittel verteilt, ein Vater schickte seinen kleinen Sohn zwei Mal
nach vorn, um nach einer weiteren Banane zu fragen. Allgemein fiel uns auf,
dass einige der Geflüchteten die Hilfe sehr bescheiden annahmen, wohingegen andere
selbstbewusst auf uns zukamen. Es wurde in der Facebook-Gruppe dazu aufgerufen,
Kekse oder Bananen mitzubringen. Die von uns angebotenen Sonnenblumenkerne waren
besonders begehrt, denn sie stellten eine Abwechslung für die seit Tagen
Wartenden dar. Die Kerne hatten einen
gewissen Wiedererkennungswert, da sie von uns bereits bei vorherigen Malen
verteilt wurden. Wie bereits oben erwähnt, sind Sonnenblumenkerne und auch Tee
im arabischen Raum ein beliebter Snack. Mit den Sonnenblumenkernen konnte eine Tradition
der zurückgelassenen Heimat in der neuen Umgebung aufgenommen werden, worüber
sich viele der Wartenden freuten. Über den Austausch der Bedeutung des Wortes Sonnenblumenkerne im Deutschen und Arabischen kamen wir mit den Wartenden ins
Gespräch. Anhand der Aufmerksamkeit, die wir von den Geflüchteten auf Grund der
Kerne erhielten, lassen sich diese als kulturelle Bedeutungsträger deklarieren.
Die hier stattfindende Kommunikation diente nicht nur dem Stillen eines körperlichen Hungergefühls, sondern stellte
vor allem auch seelische Nahrung dar. Seitens der Helfer ging es einerseits darum,
Gastfreundschaft auszudrücken und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu vermitteln.
Zum anderen symbolisierten die nächtlichen Hilfsaktionen aber auch, dass viele
Berlinerinnen und Berliner sich
informierten, über die Lage vor Ort bescheid wussten und nicht wegschauten sondern aktiv
unterstützen wollten. Dieses Bedürfnis des Helfen-Wollens manifestierte sich sowohl in
der Organisation der Facebook-Gruppe, als auch in der Tätigkeit des Tee- und
Snackreichens selbst. Von Seiten der Geflüchteten stellte dieses Hilfsangebot
vielleicht den ersten persönlichen Kontakt zu
Anwohnenden und Privatleuten außerhalb staatlich organisierter Dienststellen
dar. Für den interkulturellen Austausch
waren diese Momente des Willkommenheißens und Kennenlernens daher von großer
Bedeutung.
(EINFÜGEN: ABBILDUNG 5: Helferinnen während des Teeverteilens.
November 2015 © Christian
Mang.)
Inhaltlich wurden wir
während der Forschung besonders mit einer Problematik konfrontiert, die Ruth
Behar wohl am treffendsten in The Vulnerable Observer (Behar 2014) beschreibt. Dabei geht
es um die autobiographische Ethnographie. Wie geht der Forscher mit dem Gesehenen um? Wie stark darf
die eigene emotionale Belastung in die Forschung einfließen? Dass wir nicht
ohne emotionale Beweglichkeit in dieses oder irgendein anderes Feld gehen konnten, war uns von Beginn
an bewusst. Auch Ruth Behar stellte in diesem Punkt fest: „As
a mode of knowing that depends on the particular relationship formed by a
particular anthropologist
with a particular set of people in a particular time and place, anthropology
has always
been vexed about the question of vulnerability.“ (Ebd.,
5) Schon im Vorfeld wurden wir mit
unserer eigenen Verletzlichkeit konfrontiert: Wir fühlten uns unsicher und
wussten nicht, wie wir das Feld überhaupt als Forscherinnen betreten sollten,
ohne die Hilfe suchenden Menschen, die vor dem LaGeSo mit Kälte, Hunger und
frustrierend langen Wartezeiten zu kämpfen hatten, auf unpassende Weise zu
‘beobachten’. Ruth Behar bringt dieses Gefühl
ebenfalls zum Ausdruck: „Nothing is stranger than this business of humans
observing other humans to write about them.“
(Ebd., 5). Wir
versuchten, mit Menschen in Kontakt zu treten, die nach wochen- oder
monatelangen Strapazen und Kriegserlebnissen in Deutschland angekommen waren.
Hier wurden wir mit einer emotionalen Überforderung konfrontiert, sowie auch
mit der Herausforderung, die neu entstandene Geschmackslandschaft zu verstehen.
Wir befanden uns zwar in der Stadt, in der wir wohnen, stießen jedoch auf
fremde Verhaltensweisen, Gefühlswelten und Codes, die zwischen den Wartenden
etabliert, für uns jedoch teilweise unbekannt waren. Diese emotionalen
Unsicherheiten konnten wir durch die Teilnahme am Projekt Tee vor dem LaGeSO
zumindest ein wenig einschränken.
Nachdem wir selbst
Mitglied der Facebook-Gruppe Tee vor dem LaGeSo wurden und unsere Hilfe
ebenfalls über diese organisierten, betrachteten wir die Online-Kommunikation
von Oktober bis Mitte Februar genauer, um die Strukturen der neuen
Freiwilligenorganisation erkennen zu können. Tee vor dem LaGeSo
stellte dabei keineswegs eine Ausnahme dar. Es gab viele Organisationen und
Projekte, die sich berlinweit über das Internet und soziale Medien vernetzten um
Geflüchtete zu unterstützen. Zum Beispiel die Facebook-Gruppe Nachts vor dem LaGeSo[5], die Bürgerinitiative
Moabit hilft oder das Projekt Place4Refugees[6], aber auch Give
Something Back To Berlin e.V.[7], die unter anderem
Sprachkurse, Workshops, Ausflüge und Feste für und mit Geflüchteten planten. Alle mit dem
Ziel, ehrenamtlich Helfende zu finden, die möglichst flächendeckend
und rund um die Uhr Unterstützung leisten konnten. Darüber hinaus waren diese
Initiativen auch wichtige Plattformen, um Neuigkeiten und Erfahrungen auszutauschen.
Da sich die Situation vor dem LaGeSo ständig veränderte und dort Vieles
gleichzeitig passierte, war es allein durch die Präsenz vor Ort nicht möglich, immer auf dem
aktuellsten Stand zu sein. Durch die Recherche in den Facebook-Gruppen konnten
wir den Entwicklungen folgen und konnten die Geschmackslandschaft am LaGeSo
besser erfassen.
Die Gründerin der
Facebook-Gruppe trat in ihrer Funktion als Leiterin und Initiatorin immer
wieder hervor. Sie verwaltete die Mitgliederaufnahme, postete selbst fast
täglich über die momentane Situation und versuchte innerhalb der Gruppe für
Motivation zu sorgen. Sie fungierte als Freiwilligenvorbild, indem sie selbst sehr aktiv vor
dem LaGeSo mithalf und diese Erfahrungen auch regelmäßig mit der Gruppe teilte.
Als wir wegen eines Interviews bei ihr anfragten, lehnte sie dieses jedoch mit
der Begründung ab, sie sei zu beschäftigt. Unserem Eindruck nach blieb die
Kommunikation der Mitglieder untereinander vordergründig auf die
Onlineplattform begrenzt. Die Helfenden begegneten sich (potentiell) vor Ort,
tauschten ihre Erfahrungen aber in der Gruppe aus. Trotzdem entstand innerhalb
der Gruppe nach kurzer Zeit ein Zugehörigkeits- und
Pflichtgefühl:
“Nochmal ein herzliches
Willkommen in dieser Gruppe an Alle, die im November dazugekommen sind. Macht
doch mal diese und nächste Woche mit! Das Wetter wird jetzt leider nicht mehr
wärmer. Tragt Euch einfach mit einem Kommentar unter dem Tagespost ein. Denkt bitte
daran, der Eintrag ist wirklich wichtig für die Organisation. Alle, die bereits
losgelegt haben, Ihr macht es super!!! Danke für die Unterstützung an die ganze
Gruppe!”[8]
Das Engagement, das sich
im virtuellen Raum gründete, entwickelte in der Praxis reelle Dynamiken und löste emotionale
Reaktionen aus. Hier wurde das komplexe Zusammenspiel von Online- und
Offline-Realitäten deutlich. Auch wir realisierten während unserer Forschung,
dass wir uns plötzlich von dem Tatendrang und Durchhaltevermögen angesprochen
fühlten, wenn andere Mitglieder von der erschreckenden Situation vor dem LaGeSo
berichteten, von Kälte und Frustration auf Seiten der Helfenden und
Geflüchteten:
“Wir konnten gestern in
alle Zelte, in einem auch Kekse verteilen. Wir haben unsere Teestation dann auf
dem großen Platz aufgebaut und von dort verteilt, nachdem wir in allen drinnen
waren. Die Luft in den Zelten ist so stickig, die Menschen liegen gequetscht wie eh und je.
Wir hatten keinerlei Probleme mit Security, Polizei, Senat oder irgendwas.”[9]
Obwohl die Organisation
und Teilnahme einen ganz anderen Grad der Verpflichtung darstellten als zum Beispiel das
Engagement in einem Verein, entstand auch in einer solchen Facebook-Gruppe eine Art
gesellschaftliche Verantwortung. Es handelte sich um eine neue Form der Hilfe,
die mobil und flexibel ist. Das Smartphone spielte hierbei die Hauptrolle. Es
war den Ehrenamtlichen möglich, in wenigen Sekunden zu erfahren, wo gerade Hilfe
gebraucht wurde. Dadurch bekamen die Freiwilligen die Chance, auch spontan und
für kurze Zeit Unterstützung zu leisten, zum Beispiel wenn sie sich gerade in
unmittelbarer Nähe befanden. Andererseits wurde die Regulierung des Engagements
dadurch auch erschwert, denn niemand wusste genau, mit wem fest zu rechnen war.
Die eigene Hilfe war sofort und endgültig widerrufbar, weshalb trotz hoher Mitgliederzahlen in der
Facebook-Gruppe effektiv Helfende vor Ort fehlen konnten. Diesen Effekt
beobachteten wir bereits innerhalb unseres Forschungszeitraums. Besonders bei
schlechtem Wetter und für die Nachtschichten wurde es mit der Zeit immer
schwieriger, genug Unterstützung zu mobilisieren. Durch die ständige Kommunikation und Diskussion
innerhalb der Gruppe entstand zwar, wie oben beschrieben, eine emotionale Zusammengehörigkeit; jedoch wurden
auch negative Gefühle wie ein schlechtes Gewissen ausgelöst. Anfang Januar erkundigte sich die Gründerin der Gruppe in
einem Post: „Mich wundert es ein wenig. Es wird immer kälter, die Gruppe
größer, aber die Einträge für die Teeverteilung weniger. Habt ihr eine Erklärung?“[10] Sie löste damit sofort
Reaktionen bei den Mitgliedern aus. Diese rechtfertigten sich und berichteten
von verschiedenen Schwierigkeiten, die ihnen in letzter Zeit die Arbeit vor dem LaGeSo
erschwert hatten: “Bin erkältet :-(“[11] oder “Viel Arbeit, kein
Auto.”[12] Andere wiederum
antworteten darauf, indem sie finanzielle Unterstützung anboten, sollte es den
Helfenden vor Ort auf Dauer zu teuer werden Lebensmittel für die Hilfsaktionen zu spenden: “Nochmal zur
Erinnerung… Ihr könnt Bestellungen aufgeben bei mir wegen Bechern...daran soll es
nicht liegen, dass viele nicht mehr kommen, ok???”[13]
Grundsätzlich fällt auf,
dass Onlineengagement den Akteur_innen Freiraum gibt, sich mehr oder weniger stark
einzubinden, sei es als Diskussionsteilnehmer_innen oder Helfer_innen. Welche
Dimension und Reichweite diese Form der Organisation mit sich bringen kann,
zeigt der Fall von Dirk V.[14], der auch über die
Facebook-Gruppen hinaus öffentliches Aufsehen
erregte. Im Januar 2016 veröffentlichte eine
Bekannte von Dirk V. auf Facebook einen Screenshot des Chats, den die beiden
geführt hatten. Darin erzählt Dirk V. fälschlicherweise, dass ein Flüchtling
vor dem LaGeSo an den herrschenden Kältebedingungen gestorben sei. Der Fall
sorgte für eine Diskussion in sozialen Netzwerken und in den Medien über Verantwortung und Vertrauen in
der Freiwilligenarbeit.
Die Analyse der Facebook-Gruppe Tee vor dem Lageso zeigte uns,
welche Legitimation und vor allem welche wichtige organisatorische Bedeutung
die sozialen Medien für das ehrenamtliche Engagement haben.
Das Neue an dieser Form von Hilfe sind Mobilität,
Flexibilität und Zwanglosigkeit, die einerseits Vorteile und Möglichkeiten, aber gleichzeitig auch Schwächen
für eine stabile Hilfe mit sich bringen. Die teilnehmende Beobachtung am LaGeSo
in Verbindung mit der Recherche in den Facebook-Gruppen verschaffte
uns ein tiefergehendes Verständnis der Szenerie.
So konnten wir neben der materiellen stadträumlichen Veränderung auch die
sozialen und emotionalen Prozesse, die sich in der Szene der Helfenden entwickelten, nachvollziehen.
Fazit
Ihm Rahmen der Forschung versuchten wir die sich verändernde
Geschmackslandschaft am LaGeSo zu erfassen. Hierzu führten wir teilnehmende
Beobachtungen (Lindner) durch. Dies bedeutete in unserem Feld, sich dem
Rhythmus der Wartenden anzupassen und ebenfalls herumzuhängen (Schwanhäußer). Zum
einen erkundeten wir die stadträumliche Umgebung, deren Veränderungen wir
fotografisch und in Feldtagebüchern dokumentierten. Wir studierten dabei, inspiriert
von Wietschorkes Methode zur Erfassung von Geschmackslandschaften, die Möblierung der Stadt, sowie die Objekte und
Zeichen, die auf die Präsenz der Geflüchteten hinwiesen. Hierbei
fiel auf, dass sich vor allem die Serviceökonomie in den
angrenzenden Straßen an die neuen Anforderungen anpasste. Um die
Geschmackslandschaft weiter zu erforschen, interessierten
wir uns neben den materiellen Veränderungen zum anderen für die Atmosphäre am
LaGeSo und für die Menschen und Passanten, die sich dort aufhielten. Wir
betrachteten die Geflüchteten und Helfenden als Szene (Blum) sowohl im Sinne
einer sozialen Gruppe, als auch im atmosphärischen Sinne als Szenerie. Um
diese Szene besser zu verstehen, beteiligten wir
uns an der Aktion Tee vor dem LaGeSo, die uns einen weiteren Zugang verschaffte. Die
Analyse der Onlinekommunikation verhalf uns zu einem besseren Verständnis der Atmosphäre
und der Emotionen, die in der Szene aufkamen. Die Geschmackslandschaft
zeigte sich als vielseitig und atmosphärisch komplex, geprägt von verschiedenen Kulturen und
unterschiedlichen Anliegen der Akteure. Interessant war das Aufeinandertreffen von
Tradition und Moderne, worauf der Titel dieser Arbeit Bezug nimmt: Smartphones
und Sonnenblumenkerne - zwei Begriffe, die symbolisch für die Veränderungen
stehen, die durch den interkulturellen Austausch stattfinden.
Die heutige Situation vor dem LaGeSo zeigt, wie rasant sich die
Ausgangssituation für eine Forschung verändert. Kurz nach Abschluss unserer Beobachtungen
wurde vor dem Gebäude ein Zaun aufgestellt, der als Sichtschutz dienen soll.
Außerdem wurden auf dem Gelände Zelte installiert, in denen die Menschen warten
müssen. Die Problematik ist vom Bürgersteig aus nicht mehr erkennbar. Welche
Botschaft soll dieses Verstecken vermitteln? Wie beeinflusst das Verdängen der
Geflüchteten aus dem Stadtraum die Geschmackslandschaft und die
Willkommenskultur? Interessant wäre es auch der Frage nachzugehen, ob die
Öffentlichkeit eine Sichtbarkeit benötigt, damit das
Bedürfnis nach ehrenamtlichem Engagement entsteht. Hierbei bietet sich
ebenfalls Raum, der Frage nach der eigenen Emotionalität erneut nachzugehen.
Literaturverzeichnis
Behar, Ruth (1997): The Vulnerable
Observer. Anthropology That Breaks Your Heart. Boston.
Blum, Alan (2001): Scenes. In: Janine
Marchessault/Will Straw (Hg.):
Public. City/Scenes.
22/23 (2001). Toronto, 7-35.
Böhme, Gernot (1998): Die
Atmosphäre einer Stadt. In: Gerda Breuer (Hg.): Neue Stadträume: Zwischen
Musealisierung, Medialisierung und Gewaltlosigkeit. Frankfurt/Main, Basel,
149-162.
Lindner, Rolf (1981): Die Angst des Forschers vor dem Feld.
Überlegungen zur teilnehmenden Beobachtung als
Interaktionsprozeß. In: Zeitschrift für
Volkskunde 77(1981), 51-66.
Lindner, Rolf/Lutz Musner (2005): Kulturelle Ökonomien, urbane
‚Geschmackslandschaften‘ und Metropolenkonkurrenz. In: Informationen zur
modernen Stadtgeschichte 1(05), 26-37.
Schwanhäußer, Anja (2015): Herumhängen: Stadtforschung aus der
Subkultur/Hanging around: Subcultural urban research. In: Zeitschrift für Volkskunde 111(1), 76.
Wietschorke, Jens (2010): Räume der Konsumtion in Berlin. In:
Beate Binder u.a. (Hg.): Orte–Situationen–Atmosphären: Kulturanalytische
Skizzen. Frankfurt/Main, New York, 151-168.
Endnoten
[1] Die ‚Willkommenskultur‘ in
Deutschland wurde im Sommer und Frühherbst 2015 in vielen Medien kommentiert:
http://www.zeit.de/2015/37/willkommenskultur-deutschland-fluechtlinge-zeitgeist,
aufgerufen am 30.4.2016
[3]
Tatsächlich reagierte die Stadtverwaltung erst im Januar
2016 auf die sich verschlimmernde Lage, als die Temperaturen schon lange
winterlich waren und unter den Gefrierpunkt sanken. Auf dem Innenhof des Gebäudekomplexes
wurden drei Wartezelte aufgestellt, in denen die Geflüchteten nun auch tagsüber
warteten. Der Platz reichte trotz allem nicht aus, wodurch viele wieder unter
freiem Himmel anstanden, nun allerdings nicht mehr in voller Sichtbarkeit auf
dem Bürgersteig. Die Zahl der spontanen Helfenden nahm dadurch ab, was sich in
unserer Forschung in der Gruppe‚ Tee vor dem LaGeSo‘ manifestiert hat.
[8] Beitrag M. Bremer in der Facebook-Gruppe Tee vor dem
LaGeSo am 1.12.2015
[10] Beitrag M. Bremer in der Facebook-Gruppe Tee vor dem
LaGeSo am 6.1.2016
[11] Kommentar B. A. in der Facebook-Gruppe Tee vor dem LaGeSo
am 6.1.2016
[12] Kommentar F. S. in der Facebook-Gruppe Tee vor dem LaGeSo
am 6.1.2016
[13] Beitrag von D. K. in der Facebook-Gruppe “Tee vor dem
LaGeSo” am 6.1.2016
[14]
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-01/lageso-moabit-hilft-erfundener-fluechtlingstod-reaktion,
aufgerufen am 30.4.2016
Der Beitrag entstand im Rahmen des Master-Seminars "Ethnografische Methoden der Stadtforschung" bei Anja Schwanhäußer im Wintersemester 2015/16 am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin.
Bitte diesen Beitrag wie folgt zitieren:
Elisa Hänel, Stefanie Kofnyt, Charlotte Seiler (2016): Smartphones und Sonnenblumenkerne. Die Rolle der digitalen Medien in der Freiwilligenarbeit vor dem LaGeSo in Berlin. In: Gökce Yurdakul, Regina Römhild, Anja Schwanhäußer, Birgit zur Nieden, Aleksandra Lakic, Serhat Karakayali (Hg.): E-Book Project of Humboldt-University Students: Witnessing the Transition: Refugees, Asylum-Seekers and Migrants in Transnational Perspective. Preview (Weblog), https://www.blogger.com/blogger.g?blogID=863130166696833325#editor/target=post;postID=3697950972162993466;onPublishedMenu=allposts;onClosedMenu=allposts;postNum=0;src=link
Bitte diesen Beitrag wie folgt zitieren:
Elisa Hänel, Stefanie Kofnyt, Charlotte Seiler (2016): Smartphones und Sonnenblumenkerne. Die Rolle der digitalen Medien in der Freiwilligenarbeit vor dem LaGeSo in Berlin. In: Gökce Yurdakul, Regina Römhild, Anja Schwanhäußer, Birgit zur Nieden, Aleksandra Lakic, Serhat Karakayali (Hg.): E-Book Project of Humboldt-University Students: Witnessing the Transition: Refugees, Asylum-Seekers and Migrants in Transnational Perspective. Preview (Weblog), https://www.blogger.com/blogger.g?blogID=863130166696833325#editor/target=post;postID=3697950972162993466;onPublishedMenu=allposts;onClosedMenu=allposts;postNum=0;src=link
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