Donnerstag, 2. Juni 2016

Smartphones und Sonnenblumenkerne. Die Rolle der digitalen Medien in der Freiwilligenarbeit vor dem LaGeSo in Berlin

In: Gökce Yurdakul, Regina Römhild, Anja Schwanhäußer, Birgit zur Nieden, Aleksandra Lakic, Serhat Karakayali (Hg.): E-Book Project of Humboldt-University Students: Witnessing the Transition: Refugees, Asylum-Seekers and Migrants in Transnational Perspective. Berlin (forthcoming)

Von Elisa Hänel, Stefanie Kofnyt, Charlotte Seiler

Fotografie: Christian Mang. Ein Abend am LaGeSo. November 2015



Einleitung

„Wieder mit Tee, Keksen, Bananen, Sonnenblumenkernen vorm LaGeSo im Nieselregen. Viele Geflüchtete liegen auf dem Bürgersteig in Decken gehüllt. Wir verteilen das Mitgebrachte und kommen ins Gespräch mit einer Gruppe von drei Männern. Der eine ist sehr kommunikativ, zeigt mir Fotos auf dem Smartphone und macht direkt ein Bild von uns, um es seiner Familie in Syrien zu schicken. Er scheint viele Menschen hier zu kennen, sowohl Geflüchtete als auch ehrenamtlich Helfende. Ich würde gern wissen, wie lange er schon hier ist, aber die Kommunikation ist etwas schwierig, da ich kein Arabisch spreche. Mit ein paar englischen Wörtern schlagen sich alle ganz gut durch und die wenigen arabischen Wörter, die wir kennen, kommen gut an, brechen das Eis. Der zweite aus der Gruppe, ein junger Syrer, 21 Jahre alt, erzählt uns von seiner Geschichte: ,No mum no dadboum!‘, er macht eine Handbewegung, die eine Explosion darstellen soll. Er lacht nervös. Der Dritte schaut ernst zu ihm: ,There is a problem, also here in Berlin.‘ Er wirkt sehr interessiert und als würde er sich viele Gedanken machen, aber auch frustriert von den Bedingungen vor dem LaGeSo.“ (Feldtagebuch vom 16.11.2015)

Das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) hat im Verlauf des Jahres 2015 öffentliches Aufsehen erregt. Viele Menschen, die in den letzten Monaten aus ihrer Heimat aufgrund von Krieg und Gewalt flüchten mussten, kamen unter schwierigen Umständen nach Europa. In Berlin angekommen war die erste Anlaufstelle das LaGeSo, wo sie auf Papiere, finanzielle Unterstützung und eine Weitervermittlung in Wohnungen und Flüchtlingsheime hofften. Durch den wachsenden Strom der Geflüchteten war die Behörde mit der Betreuung der Anliegen überfordert. Monatelang sorgte das Chaos vor dem LaGeSo bundesweit für mediale Aufmerksamkeit und die Behörde erfuhr Kritik aus politischer und zivilgesellschaftlicher Richtung. Dies führte im Dezember 2015 zum Rücktritt des LaGeSo Chefs Franz Allert. Die Aufnahmen der langen Warteschlangen vor dem Gebäude machten in der nationalen und internationalen Presselandschaft die Runde und standen den ersten euphorischen Eindrücken der deutschen Willkommenskultur[1] komplementär gegenüber. Die Überforderung des LaGeSos führte zu wochenlangen Wartezeiten der Geflüchteten unter prekären Bedingungen, weshalb viele Anwohner_innen ehrenamtliche Hilfe anboten.








Fragestellung

Im Rahmen eines Seminars mit dem Schwerpunkt Stadtforschung am Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, untersuchten wir die Atmosphäre vor dem LaGeSo. Besonderes Interesse galt der Frage, wie sich die Geschmackslandschaft vor dem LaGeSo durch die Geflüchteten verändert hat. Geschmackslandschaften sind laut Rolf Lindner und Lutz Musner „historisch gewachsene städtische Räume“, die „ein spezifisches Flair, eine Aura bzw. ein urbanes Imago ausstrahlen“ (Lindner/Musner 2005, 33). Das Umfeld als Geschmackslandschaft wahrzunehmen befähigte uns, die schnellen stadträumlichen Veränderungen zu registrieren und die Fülle der Eindrücke zu einem Bild zu verdichten. Ein Fokus lag auch auf der Frage, wie die Szene und die Szenerie am LaGeSo von den Geflüchteten beeinflusst wurde. Szenen entstehen, wie Alan Blum beschreibt, im städtischen Kontext um ein Projekt herum, in informellen Strukturen: „The scene is both symbolic order and imaginative structure, a locus of collectivization and a catalyst of problem solving.“ (Blum 2001, 33) Die Szene braucht den städtischen Raum und lebt hier im Öffentlichen das Private aus. Sie ist eine Form der Aneignung von Lebensraum und Intimwerdung mit den öffentlichen Strukturen. Durch die Annäherung an eine Szene wird der öffentliche Raum für die Akteure gestaltbar und vertraut, ein Zugehörigkeitsgefühl entsteht und dem Wunsch nach Eigengestaltung kann nachgegangen werden. Wir betrachteten die Geflüchteten und Helfenden als Akteure einer Szene, die sich rund um das Warten, Ausharren und Helfen herausbildete. Hier beobachteten wir zum einen die Abläufe, Besonderheiten und Umgangsformen; zum anderen untersuchten wir den Umgang mit sozialen Medien und Smartphones. In Zeiten, in denen Twitter, Facebook und Instagram zu wichtigen und alltäglichen Informationsquellen für viele Menschen geworden sind, dienen soziale Plattformen nicht nur der Unterhaltung. Smartphones spielen auf der Flucht eine wichtige Rolle als mobile Geräte, die über Fluchtrouten informieren und mit denen der Kontakt zu Familien und Freunden aufrecht erhalten werden kann. Auch in der Alltagskommunikation sind die Smartphones als Sprachübersetzer wichtig. Sie stellen also gleichzeitig eine digitale Verbindung mit dem Zurückgelassenen her und ermöglichen den Zugang zu den neuen Umgebungen, in denen sich die Geflüchteten aufhalten. Auf diese raum- und zeitüberbrückende Funktion des Smartphones, das eine Verbindung zwischen Altem und Neuem herstellt, bezieht sich der Titel dieser Arbeit. Sonnenblumenkerne stehen hier symbolisch für die Tradition, die die Geflüchteten mitbringen, für die Erinnerungen und Kulturen. Die Sonnenblumenkerne, die wir vor dem LaGeSo an die Wartenden verteilten, lösten während unserer Forschung immer wieder positive Reaktionen aus und brachten uns so ins Gespräch mit den Geflüchteten. Das Smartphone ist den Sonnenblumenkernen als Kulturvermittler gegenübergestellt. Gemeinsam stehen die Begriffe symbolisch für die Veränderungen, die durch den interkulturellen Austausch stattfinden.
Auch für die ehrenamtlich Helfenden übernehmen die Smartphones und die digitalen Netzwerke eine wichtige Funktion. Mit den steigenden Zahlen Geflüchteter war der Staat bundesweit auf ehrenamtliche Hilfe angewiesen und hätte ohne sie den Zuzug kaum bewältigen können. Die Hilfe wurde zum Teil über soziale Medien organisiert, was eine neue Form gesellschaftlichen Engagements darstellt. Im Gegensatz zu der klassischen Vereinsarbeit entstand hier als direkte Reaktion auf eine sich schnell verändernde Situation eine neue Art der organisierten Hilfe. Ehrenamtliche können sich nun online, ohne langfristig Verantwortung zu übernehmen, flexibel für Helferschichten eintragen. Das Forschungsprojekt beschäftigte sich mit der Bedeutung von privat organisierten Gruppen auf Facebook und anderen Internetseiten in dieser Situation.

Aufbau

Um herauszufinden, wie sich die Geschmackslandschaft am LaGeSo veränderte, führten wir teilnehmende Beobachtungen (Lindner 1981) durch. Teilnehmen bedeutete in diesem Feld, sich dem Rhythmus der wartenden Geflüchteten anzupassen, das heißt, ebenfalls herumzuhängen (Schwanhäußer 2015). Wir erkundeten während ausgedehnten Wahrnehmungsspaziergängen die Umgebung und notierten Veränderungen, wobei wir uns für die Möblierung der Stadt, Objekte und Zeichen, die auf die Präsenz der Flüchtlinge hinwiesen, interessierten. Es beschäftigten uns jedoch nicht nur die materiellen Veränderungen, sondern auch die Atmosphäre am LaGeSo, die Geschmackslandschaft und die Menschen und Passanten, die sich dort aufhielten. Als Grundlage für unser methodisches Vorgehen dienten Jens Wietschorkes Überlegungen zur Atmosphärenforschung (Wietschorke 2010). Wietschorke greift das Konzept der Geschmackslandschaften auf und wendet es auf die ethnografische Methode an, wodurch eine „ethnographische Erschließung von urbanen ‚Räumen der Konsumtion‘“ (Ebd., 153) entsteht. Konsum wird hier nicht nur im materiellen Sinne verstanden sondern bezieht sich auch auf das Konsumieren einer Atmosphäre. Dadurch, dass ein „Ort im Raum“ (Ebd., 151) besetzt wird, wird dieser Raum und dessen Atmosphäre konsumiert. Die ethnografische Methode befähigt den Forschenden dazu, die „Verräumlichung des symbolischen Kapitals“ (Ebd., 164), herauszuarbeiten. Es können somit die besonderen Eigenheiten, die speziellen Geschmackslandschaften, die einen bestimmten Stadtraum ausmachen, dokumentiert werden. Wir beteiligten uns zudem an der Aktion Tee vor dem LaGeSo[2], um diese Szene der Wartenden und Helfenden besser zu verstehen. Tee vor dem LaGeSo ist eine privat organisierte Gruppe von Helfenden, die sich über Facebook organisieren und abends und nachts an die Wartenden Tee und Snacks verteilen. Wir wurden Mitglieder der Gruppe und bekamen so einen umfassenderen Blick auf die Geschmackslandschaft. Uns als Forschenden begegneten hierbei dieselben Probleme wie jenen, die von Außen kommen und helfen möchten. Unsere Erfahrungen geben somit auch einen Einblick in die Zugänge des Helfens. Über die Erfahrungen mit der Gruppe Tee vor dem LaGeSo lernten wir, was es bedeutet, mit Flüchtlingen über eine Facebook-Gruppe in Kontakt zu treten.


Herumhängen

Durch Aufenthalte auf dem LaGeSo-Gelände und Spaziergänge entlang der umliegenden Straßen entstand mit der Methode des Herumhängens (Schwanhäußer 2015) zunächst ein Bild des sich stark verändernden Stadtraums. Im Rahmen der Forschung versuchten wir die Atmosphäre des Gebietes festzuhalten. Gernot Böhme beschreibt die Atmosphäre einer Stadt als „...die subjektive Erfahrung der Stadtwirklichkeit, die die Menschen in der Stadt miteinander teilen.“ (Böhme 1998,162) Hierbei spielen nicht nur die verschiedenen Lebensformen und das subjektive Empfinden eine Rolle, sondern auch die historische Tiefe, der Geruch und die besondere Akustik, die Klanglandschaft (Ebd.,158f) des Stadtraumes. Um diese sich verändernde Stadtwirklichkeit wahrzunehmen, achteten wir während unserer Forschung auf die verschiedenen atmosphärischen Aspekte, durch die wir die besondere Geschmackslandschaft herausarbeiteten.
  
Vormals ein Ort, der abseits vom Geschehen lag, entwickelte sich der Teil der Turmstraße, an dem sich das LaGeSo befindet, durch die Geflüchteten zum neuen Mittelpunkt des politischen Geschehens in Berlin. Dies ließ sich deutlich am materiellen stadträumlichen Wandel erkennen. Während mehrerer Wahrnehmungsspaziergänge fotografierten wir, um die materiellen Veränderungen des Stadtraumes festzuhalten. Wir sahen diese Spaziergänge in Anlehnung an als ethnografische Methode zur Erforschung der Geschmackslandschaft. Durch das Fotografieren und das gleichzeitige Festhalten der Beobachtungen in den Feldtagebüchern konnten wir die Entwicklungen dokumentieren. Eine anfängliche Zurückhaltung während des Fotografierens legte sich bald, als wir die Omnipräsenz der Smartphones realisierten. Viele der Geflüchteten fotografierten selbst die Situation und hielten, wie in späteren Gesprächen im Feld zutage kam, den Zustand mit ihren Handykameras fest. Besonders auffällig war die gestiegene Anzahl der Menschen, die sich täglich vor Ort aufhielten. Abbildung eins zeigt die Lage vor dem LaGeSo im Dezember 2015: Die Geflüchteten reihten sich schon früh am Tag in die Schlange ein, die sich vor dem Tor zum Innenhof des LaGeSos befand. Abgetrennt vom Bürgersteig durch Sicherheitszäune standen die Wartenden bis in den frühen Morgen hinein unter freiem Himmel. Oft waren mehrere Hundert Geflüchtete vor Ort. Das Tor zum LaGeSo-Gelände wurde um vier Uhr früh geöffnet, woraufhin die Menschen weiter auf dem Hof und in den wenigen Wartezelten auf den Einlass in das Hauptgebäude hofften. Da täglich zu viele Termine vergeben wurden, warteten die Geflüchteten oft mehrere Tage und Nächte hintereinander, um bei den Angestellten vorsprechen zu können. Hierdurch entstand eine große Sichtbarkeit, was manche Anwohner_innen berührte und sie zum Helfen bewegte, sodass zu vielen Tages- und Nachtzeiten Helfende vor Ort waren.

Wartende vor dem LaGeSo. Dezember 2015 © Charlotte Seiler

Die sich ständig verändernde Lage am LaGeSo machte sich nicht nur im unmittelbaren Umfeld bemerkbar. Bereits rund um den U-Bahnhof Turmstraße, der in einiger Entfernung zum LaGeSo liegt, fiel die Sprachenvielfalt auf. Gruppen von Geflüchteten waren unterwegs, oft ausgestattet mit Klarsichthüllen, in denen die Dokumente zur Registrierung und Beantragung von Hilfsleistungen aufbewahrt wurden. In den umgebenden Straßen lagen in Hauseingängen immer wieder zurückgelassene silber-goldene Wärmefolien, die den Wartenden im Winter als Schutz gegen die Kälte dienten. Die Serviceökonomie rund um das LaGeSo passte sich schnell den neuen Anforderungen an. Aushänge an Hauswänden wiesen seit dem Sommer 2015 auf Arabisch den Weg zu Sprachschulen, die Deutschkurse für Geflüchtete anboten. Einige Restaurants, Imbisse und Kioske in unmittelbarer Umgebung des LaGeSos bewarben ihr Angebot nun auf Arabisch. Besonders beliebt schienen Handyverträge mit Auslandsflatrates zu sein. Aufsteller für Anrufpakete in die arabische Welt waren teilweise vollständig auf Arabisch verfasst (siehe Abbildung zwei). 

Handywerbung auf der Turmstraße. Dezember 2015 © Charlotte Seiler

Immer wieder fand sich auch eine kleine Vertretung der Zeugen Jehovas ein, die ihre Broschüren in arabischer Sprache anboten. Auch auf dem LaGeSo-Gelände waren Aushänge mehrsprachig verfasst. Um die Kommunikation zusätzlich zu vereinfachen, entwickelten Ehrenamtliche ein System von Piktogrammen, die den Hilfesuchenden den Weg wiesen (Abbildung drei). Eine Spritze stand hier für das Erste Hilfe Zelt, ein Zettel mit einem Regenbogen und einer schwangeren Frau zeigte den Weg zu der Anlaufstelle für besonders Schutzbedürftige. Das Gelände wurde dadurch zugänglicher und übersichtlicher und ermöglichte es auch Analphabet_innen sich zu orientieren.

Piktogramme auf dem LaGeSo Gelände. Dezember 2015 © Charlotte Seiler

Der folgende Auszug aus unserem Feldtagebuch vermittelt die ersten Eindrücke, die im November 2015 im Feld gesammelt wurden:

„Der erste Gedanke, der mir in den Sinn kommt, ist jetzt wo das Wetter trocken ist, geht das noch, aber was passiert wenn wir in Kürze Schnee und Regen haben?[3] Die Kleidung der Flüchtlinge ist bunt zusammengewürfelt, manche haben keine richtigen festen Schuhe, viele der Männer und Frauen sind noch mit einem T-Shirt und einer etwas dickeren Strickjacke gekleidet, manche versuchen sich mit Kapuzenpullovern, Mützen und Jacken gegen die Kälte zu schützen, wobei die Kinder meist gut eingepackt sind. Zwischendrin immer wieder Mitarbeiter_innen der Security-Firmen, die den Wartenden Anweisungen geben. Alle warten, kampieren, sitzen herum, reden miteinander, manche haben sich kleine Iglu-Zelte aufgestellt, wie man sie sonst in Vorgärten als Spielort für Kinder sieht. Hier dienen sie vor allem für die kleinen Kinder als Witterungsschutz. Ich schaue in die Gesichter der Menschen, viele sehen erschöpft aus, haben Augenringe. Aber sie scheinen die Hoffnung nicht aufzugeben.“ (Feldtagebuch vom 30.10.2015)

Die ersten Feldzugänge lösten bei uns den Wunsch aus, die Atmosphäre vor dem LaGeSo näher zu erkunden. Wir wandten uns zuerst an die Angestellten der Security Firma um zu fragen, wie wir helfen könnten und ob etwas konkret benötigt werde. Anfänglich wurden wir mit der Begründung, „Der Staat sorgt schon gut für alles.“ abgewiesen. Erst nach wiederholtem Nachfragen verwiesen sie uns in den hinteren Teil des Geländes, in dem sich die Zentrale von Moabit Hilft[4] befand. Moabit Hilft ist eine Gruppe engagierter Anwohner_innen, die sich zusammenschlossen, als sich die Zahl der am LaGeSo ankommenden Geflüchteten erhöhte. Die Gruppe, die sich zunächst privat und über das Internet organisierte, reagierte so auf die prekäre Lage der Wartenden, die meist mit wenig Gepäck in Berlin ankamen. Daher wurden zunächst Geld- und Sachspenden gesammelt. In den Räumen der Initiative konnten und können auch heute noch Kleider, Hygieneartikel und Drogerie- beziehungsweise Supermarktgutscheine abgegeben werden. Ende 2015 wandelte sich die Bürgerinitiative in einen gemeinnützigen Verein, wodurch die Strukturen verfestigt wurden und die Hilfe noch sicherer gewährleistet werden konnte. Wir nahmen die Helfenden und Geflüchteten vor dem LaGeSo als Szene (Blum 2001) wahr, die sich als dynamisches, temporäres Netzwerk als Antwort auf die aktuelle Problematik bildete. Eine Szene ist, wie oben beschrieben, eine Gruppierung von Menschen, die den öffentlichen Raum für ein bestimmtes Projekt nutzt. Vor dem LaGeSo zeigte sich diese Intimwerdung mit dem Öffentlichen an den informellen Strukturen, die entstanden. Die Wartenden lebten in völliger Öffentlichkeit auf dem Bürgersteig und gemeinsam mit den Helfenden entwickelten sie eigene Abläufe und eigneten sich damit den Raum informell an. So wurden zum Beispiel nachts kleine Tische zur Essens- und Teevergabe aufgestellt, um die herum sich Gesprächsgruppen bildeten. Einige Helfer_innen waren fast täglich vor Ort, gekennzeichnet durch grüne Warnwesten von dem Verein Moabit Hilft. Sie fungierten so als Ansprechpartner für die Geflüchteten und Helfenden. Durch Gespräche mit Geflüchteten und Helfenden vor Ort wurden wir aufmerksam auf die Initiative Tee vor dem LaGeSo. Helferschichten wurden hier bedarfsorientiert über das Internet verteilt, um so eine Betreuung und Versorgung der Geflüchteten zu gewährleisten.


Teilnehmende Beobachtung

Die private Facebook-Gruppe Tee vor dem LaGeSo wurde am 15.9.2015 von einer Anwohnerin gegründet. Die Mitgliederzahl wuchs stetig und betrug am Ende unserer Forschung im darauffolgenden Februar 592 Mitglieder. Diese konnten sich täglich für halbstündige Schichten eintragen, in denen sie an die Wartenden Tee verteilten, welcher von den Helfenden privat zubereitet wurde. Schichten wurden je nach Bedarf zwischen 18:00 Uhr und ein Uhr nachts übernommen. Über die Facebook-Pinnwand trugen wir uns zwischen Oktober und Januar unabhängig voneinander in Schichten ein, verabredeten uns einige Male aber auch gemeinsam, um teilnehmend zu beobachten. Diese Methode ermöglichte es uns das Feld nicht nur sehend zu betreten, sondern auch handelnd zu erfahren, was laut Lindner zu einer Veränderung der Wahrnehmung führt. Teilnehmende Beobachtung definiert er als einen Interaktionsprozess, durch den sich die Forschenden in einen Lernprozess begeben, in dem eine Identifizierung und somit auch ein besseres Verständnis mit den Ansichten und Standpunkten der Untersuchungsgruppe möglich ist (Lindner 1981, 63ff). Nachdem wir uns durch das Herumhängen bereits die Atmosphäre des Feldes erschlossen hatten, ergänzten wir unsere Eindrücke durch die aktive Teilnahme an der Szene von Geflüchteten und Helfenden, wodurch wir einen umfassenden Eindruck der gegenwärtigen Geschmackslandschaft erhielten. Gerade in den Wintermonaten herrschte am Abend großer Bedarf an wärmenden Getränken, Essen und auch Kleidung, denn die Menschen wurden in den Abend- und Nachtstunden ab 18:00 Uhr von keiner staatlichen Institution unterstützt. Exemplarischen Einblick in unsere Forschung soll an dieser Stelle ein Erfahrungsbericht vom 26.11.2015 geben.

Wartende nachts vor dem LaGeSo Berlin. November 2015 © Christian Mang.

Vor dem Eingang zum Gebäudekomplex befand sich bei unserer Ankunft um 21:30 Uhr eine Schlange wartender Männer jeden Alters. Frauen und Kinder wurden in besonders kalten Nächten auf Anfrage der freiwillig Helfenden gesondert in einem Wärmezelt untergebracht. Vor dem Gebäude parkten drei privat finanzierte Reisebusse, in denen die Wartenden die Möglichkeit hatten sich aufzuwärmen und etwas zu schlafen. Zwischen zwei bis drei Uhr nachts sollte es nach der Aussage des Betreuers der Busse einen weiteren Zustrom Geflüchteter geben, denn um vier Uhr würden auch die Männer Einlass in ein Wärmezelt erhalten und dort sei der Platz in der Schlange für die Teminvergabe des Folgetages entscheidend. Wir brachten mehrere Liter Tee, Zuckerwürfel, einige Packungen Kekse, Datteln, Bananen und Sonnenblumenkerne mit. Die Temperaturen in dieser Nacht lagen leicht über dem Gefrierpunkt, zudem wehte ein eisiger Wind. Ein Auszug aus unserem Feldtagebuch verdeutlicht die Zustände vor Ort:

„Es schneit, Temperaturen um die null Grad. Es ist voll vor dem LaGeSo. Wie so oft stehen die Menschen Schlange vor der Absperrung, die erst um vier Uhr aufgemacht wird. Kein Wetterschutz. Sie stehen so dicht gedrängt, dass die Wartenden vorne gegen die Gitter gepresst werden. Hauswand, Menschen, Absperrzaun, etwas Freiraum, ein weiß-rotes Absperrband, dann Polizisten, Bürgersteig (auch voll mit Geflüchteten und freiwillig Helfenden), Straße. Eine klare Abgrenzung der Bereiche, überwacht von den Polizisten, die angespannt wirken und mit radebrechendem Englisch versuchen, den Neuankömmlingen das Schlangensystem zu erklären. Eingepfercht wie Tiere. Einige Menschen sind schon krank, haben fiebrige Augen und kaum Energie, um die Zuckerwürfel in den Tee zu tun. Bei unserer Ankunft stehen bereits viele der Geflüchteten mit Pappbechern in der Hand herum. Vor dem Gebäude neben der Bushaltestelle knien zwei Helfer mit ihren Thermoskannen und es gibt auch einen „Stand“ bestehend aus einem Campingtisch, auf dem später heiße Suppe verteilt wird. Wir gehen die Schlange auf und ab, fragen immer wieder, ob noch jemand ,Chai’ möchte. Wichtig ist der Zucker. In den letzten Wochen habe ich ein paar arabische Wörter gelernt, die ich immer wieder anbringe, was oft zu witzigen Gesprächen führt. Sehr oft werde ich angelächelt und angelacht. Es ist erstaunlich wie offen und positiv einige noch sind trotz der schrecklichen Lage. Einer sagt: ,You are good but the social system is bad.‘ Im Gegensatz zu dem Syrer, der mich beim letzten Mal angeklagt hat: ,Why dont you change anything?‘, differenziert der Mann zwischen den Ehrenamtlichen und dem Staat.“ (Feldtagebuch vom 26.11.2015)

An der Situation vor Ort zeigte sich die zu der Zeit effiziente Funktionsweise der Facebook-Gruppe. Am späten Abend schienen die Geflüchteten durch die Helfenden gut versorgt zu sein, wobei die Schichten nach Mitternacht oft schwieriger zu vergeben waren. Mittlerweile ist ein allgemeiner Rückgang des Engagements im Feld zu erkennen, worauf wir innerhalb der Internetanalyse genauer eingehen werden. Der Tee diente oft nicht nur zum Aufwärmen des Körpers, sondern ebnete den Weg für Gespräche und kulturellen Austausch. Durch das Austeilen der Getränke bekamen wir als Helfende Zugang zu den Wartenden und es konnten Kontakte geknüpft werden. Obwohl der von uns mitgebrachte Tee bereits gesüßt war, wurden jedem Becher zusätzlich bis zu acht Stück Würfelzucker zugefügt, einige der Geflüchteten aßen den Zucker auch pur als energiegebenden Snack. Während der Tee auf eine ruhige routinierte Weise entgegengenommen wurde, erfreuten sich Obst, Datteln und die Sonnenblumenkerne großer Beliebtheit. Nach drei Minuten waren die gesamten Lebensmittel verteilt, ein Vater schickte seinen kleinen Sohn zwei Mal nach vorn, um nach einer weiteren Banane zu fragen. Allgemein fiel uns auf, dass einige der Geflüchteten die Hilfe sehr bescheiden annahmen, wohingegen andere selbstbewusst auf uns zukamen. Es wurde in der Facebook-Gruppe dazu aufgerufen, Kekse oder Bananen mitzubringen. Die von uns angebotenen Sonnenblumenkerne waren besonders begehrt, denn sie stellten eine Abwechslung für die seit Tagen Wartenden dar. Die Kerne hatten einen gewissen Wiedererkennungswert, da sie von uns bereits bei vorherigen Malen verteilt wurden. Wie bereits oben erwähnt, sind Sonnenblumenkerne und auch Tee im arabischen Raum ein beliebter Snack. Mit den Sonnenblumenkernen konnte eine Tradition der zurückgelassenen Heimat in der neuen Umgebung aufgenommen werden, worüber sich viele der Wartenden freuten. Über den Austausch der Bedeutung des Wortes Sonnenblumenkerne im Deutschen und Arabischen kamen wir mit den Wartenden ins Gespräch. Anhand der Aufmerksamkeit, die wir von den Geflüchteten auf Grund der Kerne erhielten, lassen sich diese als kulturelle Bedeutungsträger deklarieren. Die hier stattfindende Kommunikation diente nicht nur dem Stillen eines körperlichen Hungergefühls, sondern stellte vor allem auch seelische Nahrung dar. Seitens der Helfer ging es einerseits darum, Gastfreundschaft auszudrücken und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu vermitteln. Zum anderen symbolisierten die nächtlichen Hilfsaktionen aber auch, dass viele Berlinerinnen und Berliner sich informierten, über die Lage vor Ort bescheid wussten und nicht wegschauten sondern aktiv unterstützen wollten. Dieses Bedürfnis des Helfen-Wollens manifestierte sich sowohl in der Organisation der Facebook-Gruppe, als auch in der Tätigkeit des Tee- und Snackreichens selbst. Von Seiten der Geflüchteten stellte dieses Hilfsangebot vielleicht den ersten persönlichen Kontakt zu Anwohnenden und Privatleuten außerhalb staatlich organisierter Dienststellen dar.  Für den interkulturellen Austausch waren diese Momente des Willkommenheißens und Kennenlernens daher von großer Bedeutung.

(EINFÜGEN: ABBILDUNG 5: Helferinnen während des Teeverteilens. November 2015 © Christian Mang.)

Inhaltlich wurden wir während der Forschung besonders mit einer Problematik konfrontiert, die Ruth Behar wohl am treffendsten in The Vulnerable Observer (Behar 2014) beschreibt. Dabei geht es um die autobiographische Ethnographie. Wie geht der Forscher mit dem Gesehenen um? Wie stark darf die eigene emotionale Belastung in die Forschung einfließen? Dass wir nicht ohne emotionale Beweglichkeit in dieses oder irgendein anderes Feld gehen konnten, war uns von Beginn an bewusst. Auch Ruth Behar stellte in diesem Punkt fest: As a mode of knowing that depends on the particular relationship formed by a particular anthropologist with a particular set of people in a particular time and place, anthropology has always been vexed about the question of vulnerability.“ (Ebd., 5) Schon im Vorfeld wurden wir mit unserer eigenen Verletzlichkeit konfrontiert: Wir fühlten uns unsicher und wussten nicht, wie wir das Feld überhaupt als Forscherinnen betreten sollten, ohne die Hilfe suchenden Menschen, die vor dem LaGeSo mit Kälte, Hunger und frustrierend langen Wartezeiten zu kämpfen hatten, auf unpassende Weise zu ‘beobachten’. Ruth Behar bringt dieses Gefühl ebenfalls zum Ausdruck: „Nothing is stranger than this business of humans observing other humans to write about them.“ (Ebd., 5). Wir versuchten, mit Menschen in Kontakt zu treten, die nach wochen- oder monatelangen Strapazen und Kriegserlebnissen in Deutschland angekommen waren. Hier wurden wir mit einer emotionalen Überforderung konfrontiert, sowie auch mit der Herausforderung, die neu entstandene Geschmackslandschaft zu verstehen. Wir befanden uns zwar in der Stadt, in der wir wohnen, stießen jedoch auf fremde Verhaltensweisen, Gefühlswelten und Codes, die zwischen den Wartenden etabliert, für uns jedoch teilweise unbekannt waren. Diese emotionalen Unsicherheiten konnten wir durch die Teilnahme am Projekt Tee vor dem LaGeSO zumindest ein wenig einschränken.

Nachdem wir selbst Mitglied der Facebook-Gruppe Tee vor dem LaGeSo wurden und unsere Hilfe ebenfalls über diese organisierten, betrachteten wir die Online-Kommunikation von Oktober bis Mitte Februar genauer, um die Strukturen der neuen Freiwilligenorganisation erkennen zu können. Tee vor dem LaGeSo stellte dabei keineswegs eine Ausnahme dar. Es gab viele Organisationen und Projekte, die sich berlinweit über das Internet und soziale Medien vernetzten um Geflüchtete zu unterstützen. Zum Beispiel die Facebook-Gruppe Nachts vor dem LaGeSo[5], die Bürgerinitiative Moabit hilft oder das Projekt Place4Refugees[6], aber auch Give Something Back To Berlin e.V.[7], die unter anderem Sprachkurse, Workshops, Ausflüge und Feste für und mit Geflüchteten planten. Alle mit dem Ziel, ehrenamtlich Helfende zu finden, die möglichst flächendeckend und rund um die Uhr Unterstützung leisten konnten. Darüber hinaus waren diese Initiativen auch wichtige Plattformen, um Neuigkeiten und Erfahrungen auszutauschen. Da sich die Situation vor dem LaGeSo ständig veränderte und dort Vieles gleichzeitig passierte, war es allein durch die Präsenz vor Ort nicht möglich, immer auf dem aktuellsten Stand zu sein. Durch die Recherche in den Facebook-Gruppen konnten wir den Entwicklungen folgen und konnten die Geschmackslandschaft am LaGeSo besser erfassen.

Die Gründerin der Facebook-Gruppe trat in ihrer Funktion als Leiterin und Initiatorin immer wieder hervor. Sie verwaltete die Mitgliederaufnahme, postete selbst fast täglich über die momentane Situation und versuchte innerhalb der Gruppe für Motivation zu sorgen. Sie fungierte als Freiwilligenvorbild, indem sie selbst sehr aktiv vor dem LaGeSo mithalf und diese Erfahrungen auch regelmäßig mit der Gruppe teilte. Als wir wegen eines Interviews bei ihr anfragten, lehnte sie dieses jedoch mit der Begründung ab, sie sei zu beschäftigt. Unserem Eindruck nach blieb die Kommunikation der Mitglieder untereinander vordergründig auf die Onlineplattform begrenzt. Die Helfenden begegneten sich (potentiell) vor Ort, tauschten ihre Erfahrungen aber in der Gruppe aus. Trotzdem entstand innerhalb der Gruppe nach kurzer Zeit ein Zugehörigkeits- und Pflichtgefühl:

“Nochmal ein herzliches Willkommen in dieser Gruppe an Alle, die im November dazugekommen sind. Macht doch mal diese und nächste Woche mit! Das Wetter wird jetzt leider nicht mehr wärmer. Tragt Euch einfach mit einem Kommentar unter dem Tagespost ein. Denkt bitte daran, der Eintrag ist wirklich wichtig für die Organisation. Alle, die bereits losgelegt haben, Ihr macht es super!!! Danke für die Unterstützung an die ganze Gruppe!”[8]

Das Engagement, das sich im virtuellen Raum gründete, entwickelte in der Praxis reelle Dynamiken und löste emotionale Reaktionen aus. Hier wurde das komplexe Zusammenspiel von Online- und Offline-Realitäten deutlich. Auch wir realisierten während unserer Forschung, dass wir uns plötzlich von dem Tatendrang und Durchhaltevermögen angesprochen fühlten, wenn andere Mitglieder von der erschreckenden Situation vor dem LaGeSo berichteten, von Kälte und Frustration auf Seiten der Helfenden und Geflüchteten:

“Wir konnten gestern in alle Zelte, in einem auch Kekse verteilen. Wir haben unsere Teestation dann auf dem großen Platz aufgebaut und von dort verteilt, nachdem wir in allen drinnen waren. Die Luft in den Zelten ist so stickig, die Menschen liegen gequetscht wie eh und je. Wir hatten keinerlei Probleme mit Security, Polizei, Senat oder irgendwas.”[9]

Obwohl die Organisation und Teilnahme einen ganz anderen Grad der Verpflichtung darstellten als zum Beispiel das Engagement in einem Verein, entstand auch in einer solchen Facebook-Gruppe eine Art gesellschaftliche Verantwortung. Es handelte sich um eine neue Form der Hilfe, die mobil und flexibel ist. Das Smartphone spielte hierbei die Hauptrolle. Es war den Ehrenamtlichen möglich, in wenigen Sekunden zu erfahren, wo gerade Hilfe gebraucht wurde. Dadurch bekamen die Freiwilligen die Chance, auch spontan und für kurze Zeit Unterstützung zu leisten, zum Beispiel wenn sie sich gerade in unmittelbarer Nähe befanden. Andererseits wurde die Regulierung des Engagements dadurch auch erschwert, denn niemand wusste genau, mit wem fest zu rechnen war. Die eigene Hilfe war sofort und endgültig widerrufbar, weshalb trotz hoher Mitgliederzahlen in der Facebook-Gruppe effektiv Helfende vor Ort fehlen konnten. Diesen Effekt beobachteten wir bereits innerhalb unseres Forschungszeitraums. Besonders bei schlechtem Wetter und für die Nachtschichten wurde es mit der Zeit immer schwieriger, genug Unterstützung zu mobilisieren. Durch die ständige Kommunikation und Diskussion innerhalb der Gruppe entstand zwar, wie oben beschrieben, eine emotionale Zusammengehörigkeit; jedoch wurden auch negative Gefühle wie ein schlechtes Gewissen ausgelöst. Anfang Januar erkundigte sich die Gründerin der Gruppe in einem Post: „Mich wundert es ein wenig. Es wird immer kälter, die Gruppe größer, aber die Einträge für die Teeverteilung weniger. Habt ihr eine Erklärung?“[10] Sie löste damit sofort Reaktionen bei den Mitgliedern aus. Diese rechtfertigten sich und berichteten von verschiedenen Schwierigkeiten, die ihnen in letzter Zeit die Arbeit vor dem LaGeSo erschwert hatten: “Bin erkältet :-(“[11] oder “Viel Arbeit, kein Auto.”[12] Andere wiederum antworteten darauf, indem sie finanzielle Unterstützung anboten, sollte es den Helfenden vor Ort auf Dauer zu teuer werden Lebensmittel für die Hilfsaktionen zu spenden: “Nochmal zur Erinnerung… Ihr könnt Bestellungen aufgeben bei mir wegen Bechern...daran soll es nicht liegen, dass viele nicht mehr kommen, ok???”[13]

Grundsätzlich fällt auf, dass Onlineengagement den Akteur_innen Freiraum gibt, sich mehr oder weniger stark einzubinden, sei es als Diskussionsteilnehmer_innen oder Helfer_innen. Welche Dimension und Reichweite diese Form der Organisation mit sich bringen kann, zeigt der Fall von Dirk V.[14], der auch über die Facebook-Gruppen hinaus öffentliches Aufsehen erregte. Im Januar 2016 veröffentlichte eine Bekannte von Dirk V. auf Facebook einen Screenshot des Chats, den die beiden geführt hatten. Darin erzählt Dirk V. fälschlicherweise, dass ein Flüchtling vor dem LaGeSo an den herrschenden Kältebedingungen gestorben sei. Der Fall sorgte für eine Diskussion in sozialen Netzwerken und in den Medien über Verantwortung und Vertrauen in der Freiwilligenarbeit.

Die Analyse der Facebook-Gruppe Tee vor dem Lageso zeigte uns, welche Legitimation und vor allem welche wichtige organisatorische Bedeutung die sozialen Medien für das ehrenamtliche Engagement haben. Das Neue an dieser Form von Hilfe sind Mobilität, Flexibilität und Zwanglosigkeit, die einerseits Vorteile und Möglichkeiten, aber gleichzeitig auch Schwächen für eine stabile Hilfe mit sich bringen. Die teilnehmende Beobachtung am LaGeSo in Verbindung mit der Recherche in den Facebook-Gruppen verschaffte uns ein tiefergehendes Verständnis der Szenerie. So konnten wir neben der materiellen stadträumlichen Veränderung auch die sozialen und emotionalen Prozesse, die sich in der Szene der Helfenden entwickelten, nachvollziehen.


Fazit

Ihm Rahmen der Forschung versuchten wir die sich verändernde Geschmackslandschaft am LaGeSo zu erfassen. Hierzu führten wir teilnehmende Beobachtungen (Lindner) durch. Dies bedeutete in unserem Feld, sich dem Rhythmus der Wartenden anzupassen und ebenfalls herumzuhängen (Schwanhäußer). Zum einen erkundeten wir die stadträumliche Umgebung, deren Veränderungen wir fotografisch und in Feldtagebüchern dokumentierten. Wir studierten dabei, inspiriert von Wietschorkes Methode zur Erfassung von Geschmackslandschaften, die Möblierung der Stadt, sowie die Objekte und Zeichen, die auf die Präsenz der Geflüchteten hinwiesen. Hierbei fiel auf, dass sich vor allem die Serviceökonomie in den angrenzenden Straßen an die neuen Anforderungen anpasste. Um die Geschmackslandschaft weiter zu erforschen, interessierten wir uns neben den materiellen Veränderungen zum anderen für die Atmosphäre am LaGeSo und für die Menschen und Passanten, die sich dort aufhielten. Wir betrachteten die Geflüchteten und Helfenden als Szene (Blum) sowohl im Sinne einer sozialen Gruppe, als auch im atmosphärischen Sinne als Szenerie. Um diese Szene besser zu verstehen, beteiligten wir uns an der Aktion Tee vor dem LaGeSo, die uns einen weiteren Zugang verschaffte. Die Analyse der Onlinekommunikation verhalf uns zu einem besseren Verständnis der Atmosphäre und der Emotionen, die in der Szene aufkamen. Die Geschmackslandschaft zeigte sich als vielseitig und atmosphärisch komplex, geprägt von verschiedenen Kulturen und unterschiedlichen Anliegen der Akteure. Interessant war das Aufeinandertreffen von Tradition und Moderne, worauf der Titel dieser Arbeit Bezug nimmt: Smartphones und Sonnenblumenkerne - zwei Begriffe, die symbolisch für die Veränderungen stehen, die durch den interkulturellen Austausch stattfinden.  

Die heutige Situation vor dem LaGeSo zeigt, wie rasant sich die Ausgangssituation für eine Forschung verändert. Kurz nach Abschluss unserer Beobachtungen wurde vor dem Gebäude ein Zaun aufgestellt, der als Sichtschutz dienen soll. Außerdem wurden auf dem Gelände Zelte installiert, in denen die Menschen warten müssen. Die Problematik ist vom Bürgersteig aus nicht mehr erkennbar. Welche Botschaft soll dieses Verstecken vermitteln? Wie beeinflusst das Verdängen der Geflüchteten aus dem Stadtraum die Geschmackslandschaft und die Willkommenskultur? Interessant wäre es auch der Frage nachzugehen, ob die Öffentlichkeit eine Sichtbarkeit benötigt, damit das Bedürfnis nach ehrenamtlichem Engagement entsteht. Hierbei bietet sich ebenfalls Raum, der Frage nach der eigenen Emotionalität erneut nachzugehen.





Literaturverzeichnis

Behar, Ruth (1997): The Vulnerable Observer. Anthropology That Breaks Your Heart. Boston.

Blum, Alan (2001): Scenes. In: Janine Marchessault/Will Straw (Hg.):
Public. City/Scenes. 22/23 (2001). Toronto, 7-35.

Böhme, Gernot (1998): Die Atmosphäre einer Stadt. In: Gerda Breuer (Hg.): Neue Stadträume: Zwischen Musealisierung, Medialisierung und Gewaltlosigkeit. Frankfurt/Main, Basel, 149-162.

Lindner, Rolf (1981): Die Angst des Forschers vor dem Feld. Überlegungen zur teilnehmenden Beobachtung als Interaktionsprozeß. In: Zeitschrift für Volkskunde 77(1981), 51-66.

Lindner, Rolf/Lutz Musner (2005): Kulturelle Ökonomien, urbane ‚Geschmackslandschaften‘ und Metropolenkonkurrenz. In: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 1(05), 26-37.

Schwanhäußer, Anja (2015): Herumhängen: Stadtforschung aus der Subkultur/Hanging around: Subcultural urban research. In: Zeitschrift für Volkskunde 111(1), 76.

Wietschorke, Jens (2010): Räume der Konsumtion in Berlin. In: Beate Binder u.a. (Hg.): Orte–Situationen–Atmosphären: Kulturanalytische Skizzen. Frankfurt/Main, New York, 151-168.



Endnoten

[1] Die ‚Willkommenskultur‘ in Deutschland wurde im Sommer und Frühherbst 2015 in vielen Medien kommentiert: http://www.zeit.de/2015/37/willkommenskultur-deutschland-fluechtlinge-zeitgeist, aufgerufen am 30.4.2016
[2] https://www.facebook.com/groups/412126885643156/, aufgerufen am 30.4.2016
[3] Tatsächlich reagierte die Stadtverwaltung erst im Januar 2016 auf die sich verschlimmernde Lage, als die Temperaturen schon lange winterlich waren und unter den Gefrierpunkt sanken. Auf dem Innenhof des Gebäudekomplexes wurden drei Wartezelte aufgestellt, in denen die Geflüchteten nun auch tagsüber warteten. Der Platz reichte trotz allem nicht aus, wodurch viele wieder unter freiem Himmel anstanden, nun allerdings nicht mehr in voller Sichtbarkeit auf dem Bürgersteig. Die Zahl der spontanen Helfenden nahm dadurch ab, was sich in unserer Forschung in der Gruppe‚ Tee vor dem LaGeSo‘ manifestiert hat.
[4]  www.moabit-hilft.com, aufgerufen am 30.4.2016
[5] https://www.facebook.com/NachtsvordemLAGeSo/, aufgerufen am 30.4.2016
[6] http://place4refugees.de/, aufgerufen am 30.4.2016
[7] http://www.givesomethingbacktoberlin.com/, aufgerufen am 30.4.2016
[8] Beitrag M. Bremer in der Facebook-Gruppe Tee vor dem LaGeSo am 1.12.2015
[9] Kommentar M. S. in der Facebook-Gruppe Tee vor dem LaGeSo am 17.12.2015
[10] Beitrag M. Bremer in der Facebook-Gruppe Tee vor dem LaGeSo am 6.1.2016
[11] Kommentar B. A. in der Facebook-Gruppe Tee vor dem LaGeSo am 6.1.2016
[12] Kommentar F. S. in der Facebook-Gruppe Tee vor dem LaGeSo am 6.1.2016
[13] Beitrag von D. K. in der Facebook-Gruppe “Tee vor dem LaGeSo” am 6.1.2016
[14] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-01/lageso-moabit-hilft-erfundener-fluechtlingstod-reaktion, aufgerufen am 30.4.2016



Der Beitrag entstand im Rahmen des Master-Seminars "Ethnografische Methoden der Stadtforschung" bei Anja Schwanhäußer im Wintersemester 2015/16 am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin.

Bitte diesen Beitrag wie folgt zitieren: 
 Elisa Hänel, Stefanie Kofnyt, Charlotte Seiler (2016): Smartphones und Sonnenblumenkerne. Die Rolle der digitalen Medien in der Freiwilligenarbeit vor dem LaGeSo in Berlin. In: Gökce Yurdakul, Regina Römhild, Anja Schwanhäußer, Birgit zur Nieden, Aleksandra Lakic, Serhat Karakayali (Hg.): E-Book Project of Humboldt-University Students: Witnessing the Transition: Refugees, Asylum-Seekers and Migrants in Transnational Perspective. Preview (Weblog), https://www.blogger.com/blogger.g?blogID=863130166696833325#editor/target=post;postID=3697950972162993466;onPublishedMenu=allposts;onClosedMenu=allposts;postNum=0;src=link

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