Donnerstag, 2. Juni 2016

Einfach mal gucken - darf man das?


In: Gökce Yurdakul, Regina Römhild, Anja Schwanhäußer, Birgit zur Nieden, Aleksandra Lakic, Serhat Karakayali (Hg.): E-Book Project of Humboldt-University Students: Witnessing the Transition: Refugees, Asylum-Seekers and Migrants in Transnational Perspective. Berlin (forthcoming)

Von Lou Klappenbach, Fabian Bovens (Mitarbeit: Konstantin Krex)


Fotografie: Fabian Bovens 2016, Plakat turbo pascal


Sie [die Polizist_innen] erzeugen bei mir ein angespanntes Gefühl von Unwohlsein. Wann erkennen die, dass ich nicht aus denselben Gründen hier bin, wie die anderen Leute, die mit mir ausgestiegen sind und nun eilig zum Flughafengebäude laufen? Wann muss ich mich das erste Mal rechtfertigen und wie genau soll ich das tun? Zu sagen, dass ich mir nur mal so die Geflüchteten anschauen will, kommt mir ziemlich ungelenk vor. Die Taktik, mich direkt als Student mit wissenschaftlichem Interesse zu outen, wirkt auf mich auch nicht viel besser. Da komme ich mir vor wie ein Elendstourist auf Menschenschau, legitimiert durch ein Forschungsinteresse. Als ich mit dem Hintergedanken möglichst zielsicher wirkend an den Polizisten vorbeilaufe und mitbekomme, wie diese untereinander über irgendwas scherzen, löst sich die Spannung wieder etwas. [...]
In der Gruppe [der Geflüchteten] mitzulaufenn fühlt sich komisch an, das Gefühl, hier falsch zu sein kommt wieder. Erst recht, als wir vor der abgesperrten Bahnhofshalle ankommen und diese inmitten der Menschenmenge betreten. Leute in gelben Westen geben mit Megafonen Anweisungen auf Arabisch. Schnell werden wir von einem von ihnen auf unsere Anwesenheit angesprochen. Ob wir wissen wurden, was das hier ist. Als wir das unsicher bestätigen, scheint das irgendwie in Ordnung zu sein und er geht weiter. Zu merken, dass wir hier nicht sofort weggeschickt werden tut gut. (Auszug Feldnotizen vom 26. November 2015)

Foto: Konstantin Krex, November 2015, Berlin-Schönefeld
Am Bahnhof Schönfeld kommen täglich Geflüchtete mit Zügen an, haben kurzen Aufenthalt und werden dann mit Bussen zu Verwaltungsstellen in Berlin und Brandenburg gebracht. Der Bahnhof Schönfeld wird somit, in einem kleinen Zeitfenster früh am Morgen, zu einer Station auf der Flucht vieler Menschen. Diese Situation wollten wir, Fabian und Lou, gemeinsam mit unserem Projektpartner Konstantin beschreiben.
Im Rahmen eines Seminars begaben wir uns als Kleingruppe im November 2015 an den Bahnhof Schönfeld. Dort Erlebtes wurde in Beobachtungsprotokollen festgehalten, später innerhalb der Kleingruppe und im Seminar diskutiert und soll nun im Folgenden vorgestellt werden. Bei unserem Feldaufenthalt haben wir uns unter die Geflüchteten gemischt, sind mit unserem Gewissen in Konflikt geraten, konnten als Freiwillige mithelfen und haben erfahren, wie es sich anfühlt, als Studierende der Ethnologie „einfach mal zu gucken“.

Das Feld

Die Situation am Bahnhof Schönfeld war uns nur aus den kargen Medienberichten bekannt. Eine genauere Vorstellung dessen, was uns erwarten würde, hatten wir nicht. Durch eine vorherige Erkundung wussten wir, dass die Züge mit den geflüchteten Menschen jeden Tag gegen 8 Uhr eintreffen. Über die Abläufe vor Ort war uns außer der Information, dass der Bahnhof als Zwischenstation vor der Weiterverteilung auf die Verwaltungsstellen in Berlin und Brandenburg genutzt wird, nichts bekannt. Es ging uns gerade darum, einfach mal „hinzugehen und zu gucken“, die Atmosphäre des Bahnhofs zu spüren (Lofgren, 2010) und die Situation des Ankommens mitzuerleben.
Der Gang ins Feld, ohne vorkonstruiertes Forschungskonzept, ohne theoretische Grundlage, unvoreingenommen, schien uns als Set interessant. Voraussetzung dafür ist eine offene und aufgeschlossene Haltung den Geschehnissen gegenüber. Den verschiedenen möglichen Ereignissen sollte freien Lauf gelassen werden, damit nichts von vornherein festgelegt oder ausgeschlossen wird. An dieser Stelle wollen wir nun einen knappen Abriss vom Verlauf unserer Feldaufenthalte geben.
Anfang November war es Konstantin, der sich das erste Mal ins Feld begab. Zu diesem Zeitpunkt jedoch noch ohne die Kenntnisse der Ankunftszeiten der Züge, traf er nach einigem Umherschweifen die Geflüchteten wartend in der alten Empfangshalle an. Er fand heraus, dass diese dort bleiben, bis sie mit Bussen zu den Aufnahmeeinrichtungen transportiert werden. Vor Ort waren zudem Soldat_innen, Dolmetscher_innen, Ärtz_innen, Mitarbeiter_innen des Landesamts für Gesundheit und Soziales (LaGeSo), Polizei und die Bundespolizei.
Ich laufe in die Halle und mitten durch herumstolpernde Kinder und Leute, die auf ihren Sachen schlafen. Es ist dunkel und stickig. In den Ecken des Raumes geben Bundeswehrsoldaten Getränke und Essen aus. Es gibt Mandarinen. Zum ersten Mal fühle ich Beklemmung, was mich davon abhält hier zu verweilen und mir die Menschen genau anzusehen bzw. die Abläufe zu studieren. Ich laufe einfach weiter durch in Richtung Ausgang zur Straße. Was mir sofort und ganz klar auffällt ist: Ich bin hier der Einzige, der nicht entweder arbeitet bzw. hilft oder Geflüchtete_r ist. Auch kein_e einzige_r Journalist_in ist auszumachen. Als ich durch den Ausgang Richtung Straße gehe, fallen die Blicke sämtlicher Beamt_innen und Ärzt_innen, Dolmetscher_innen, Menschen in LaGeSo-Warnwesten und Feuerwehrmenschen auf mich. Mir ist klar, dass sie mir ansehen, dass ich nicht aus den gleichen Gründen hier bin, wie sie. Die wartenden Menschen drinnen schienen sich da weniger für den Grund meiner Anwesenheit zu interessieren. Es war ihnen schlichtweg egal, so schien es. Als ich draußen vor einer Kolonne parkender Polizeiautos stehen bleibe und auf mein Telefon schaue, noch immer heften zahllose Blicke an mir, kommt der Einsatzleiter der Polizei auf mich zu. Ich schaue ihm lange ins Gesicht. Er sieht nett aus aber ernst. Er fragt mich in welcher Funktion ich hier bin. Ich antworte, dass ich in keiner Funktion hier bin, sondern aus Interesse. „Ich will mir das einfach mal angucken“, sage ich. Gut“, erwidert er. „Aber nicht die Abläufe stören, bitte“. Ich entspreche seiner Bitte wohlwollend und er zieht zufrieden ab. (Feldnotizen von Konstantin vom 11. November 2015)
Als Konstantin gefragt wird, warum er hier ist, antwortet dieser „einfach mal gucken“ zu wollen. Es war offensiv und er befürchtete, den Polizisten damit zu provozieren. Sein Gucken machte ihn verletzlich (vgl. vulnerable Observer). Doch entgegen der Befürchtung, stoßen sein Interesse und seine offensive Herangehensweise nicht auf Ablehnung. Neugier ist für den Polizisten eine Haltung, die er akzeptiert, vermutlich auch versteht. Sie ist scheinbar erlaubt und entspricht der eingangs erwähnten aufgeschlossenen Haltung den Geschehnissen gegenüber.
Als wir, Fabian und Lou, uns dann wenige Wochen später ins Feld begeben, können wir auf Konstantins Einstieg aufbauen. Wir treffen bei unserer Feldbegehung auf den angekommenen Zug mit den Geflüchteten, dessen Ankunftszeit nun bekannt ist. Wir reihen uns in die Gruppe der aussteigenden Menschen ein und gehen mit ihnen vom Bahnsteig aus in die ehemalige Bahnhofshalle. An dessen Eingang werden auch wir von einem Ordner auf unsere Anwesenheit angesprochen. Ob wir wüssten, was das hier sei. Ein knappes „ja“ reicht aus, um nicht weggeschickt zu werden. Nach kurzer Beobachtungszeit der Situation in der Halle entschließen wir uns, unsere Hilfe anzubieten und sprechen eine der Freiwilligen an. Bei der Arbeit in der Kleiderkammer kommen wir mit den anderen Helfenden und auch mit einigen Geflüchteten ins Gespräch.
Aus diesen Erfahrungen drängten sich uns mehrere Fragen auf. Was kann das „einfach mal gucken“ als Bestandteil ethnographischer Feldforschung bewirken? Ist diese Herangehensweise moralisch legitim (einfach mal gucken - darf man das?) und inwiefern ist das „einfach mal gucken“ dem ethnographischen Vorhaben hinderlich oder förderlich? Denn das „Gucken“ als ethnographische Methode zu etablieren, überzeugt nicht.
Zur Beantwortung dieser Fragen wollen wir unsere inneren Monologe rekonstruieren, die sich im Feld auftaten und aus denen heraus sich die einzelnen Fragestellungen ergaben.

Analyse der inneren Monologe

Im vorhergehenden Abschnitt wurde der Ablauf der Beobachtung dargestellt. Daraus lassen sich fünf Situationen identifizieren: 1. Das Eintreffen am Gleis, 2. Das Aussteigen der Geflüchteten, 3. Das Mitlaufen in der Gruppe der Geflüchteten, 4. Das Eintreffen in der Bahnhofshalle und 5. Das Aktivwerden in der Bahnhofshalle. Innerhalb dieser Situationen haben wir unterschiedliche gedankliche Konflikte gehabt, innere Monologe geführt, die wir dann im Beobachtungsprotokoll festgehalten haben.
Wir wollen uns der Beantwortung der Frage, „ob einfach mal gucken“ erlaubt ist, anhand der Diskussion der inneren Monologe nähern. Dafür haben wir im Beobachtungsprotokoll verschiedene Gewissenskonflikte identifiziert. Diese Konflikte entstanden aus bestimmten Gefühlen, Gedanken, Fragen und Vorannahmen, die im Folgenden zuerst einmal einzeln betrachtet werden, die jedoch nicht voneinander unabhängig gesehen werden können, da sie fließend ineinandergreifen.
Darf ich hier sein?
Der erste Konflikt dreht sich um die Frage: „Darf ich eigentlich hier sein?“ Wie das Eingangszitat des Aufsatzes zeigt, entstand in uns zu Beginn der Beobachtung ein Gefühl des Unwohlseins als wir uns dem Gleis nähern und nicht wissen, ob wir gleich wieder weggeschickt werden.
Meine Anwesenheit scheint die hier nicht weiter zu stören, was mein Gefühl im Bauch aber auch nicht davon ab hält, immer unangenehmer zu werden. Ich spüre, dass ich an diesem Ort hier eigentlich nicht sein sollte. (Auszug Feldnotizen vom
26. November 2015)
Foto: Konstantin Krex, November 2015, Berlin-Schönfeld
Innerhalb dieses Konfliktes kommen Fragen zum Ausdruck, die sich auf die Autorisierung und gleichzeitig die Legitimität der eigenen Anwesenheit im Feld beziehen. Zum Ausdruck kommt dabei das Gefühl, sich unerlaubterweise an dem Ort aufzuhalten sowie beim unautorisierten „Umherschleichen“ ertappt zu werden. Diese Gedanken sind eng verknüpft mit Fragen des Feldzugangs, wie beispielsweise die Frage, wie und wann sich als Forscher_in geoutet werden kann und sollte. Es geht also um das Verhältnis von Forscher_in und Feld und auch um Ängste vor dem Feld, wie sie Lindner (1981) beschreibt. Gleichzeitig geht es aber auch darum, ob das (Forschungs-)Interesse die Anwesenheit der Forschenden legitimiert, oder ob dies die Menschen im Feld stören oder ihnen schaden könnten. Dies führt uns zum zweiten Konflikt.
Darf ich gucken?
Der zweite Konflikt, welcher direkt an den vorhergehenden anschließt, bezieht sich auf die Frage „darf ich eigentlich gucken“.
Zu sagen, dass ich mir nur mal so die Geflüchteten anschauen will, kommt mir ziemlich ungelenk vor [...]. Da komme ich mir vor wie ein Elendstourist auf Menschenschau, legitimiert durch ein „wichtiges“ Forschungsinteresse. (Auszug Feldnotizen vom 26. November 2015)
Diese Frage der Legitimität des Guckens zeigt ein Spannungsverhältnis zwischen methodischen und moralischen Fragen auf, indem wir uns während der Beobachtung befunden haben. Es ist geprägt durch das Gefühl „Gaffer_in“ oder „Voyeur_in“ zu sein, statt wissenschaftlich legitim zu beobachten. Bei diesen Zuschreibungen würde eine Sensationsgier unterstellt, die einen moralischen Tabubruch darstellt. In dieser Annahme findet sich der erste Konflikt, die Frage nach der Anwesenheitslegitimation, wieder.
Eine teilweise Abschwächung dieses Gefühls tritt erst ein, als wir beim Eintreten in die Bahnhofshalle von einem Helfenden angesprochen werden und nach einer kurzen Erklärung, dass wir nur gucken wollen, passieren dürfen. Offiziell ist unser Beobachten nun genehmigt, moralisch, vor uns selbst, jedoch noch nicht.
Zu merken, dass wir hier nicht sofort wieder weggeschickt werden tut gut. Nun können wir erst einmal etwas sicherer die Situation in der Halle beobachten. (Auszug Feldnotizen vom 26. November 2015)
Die gewonnene Sicherheit und somit die Frage der Legitimität des Guckens wird jedoch wenig später von einem neuen Konflikt abgelöst.
Darf ich hier sein und nur gucken?
Plötzlich geht es nicht mehr um die Fragen, ob wir hier sein dürfen und ob wir gucken dürfen, sondern um die Frage, dürfen wir hier sein und nur gucken.
Es sind mehrere Tische für Lebensmittel und andere Sachen aufgestellt. Bundeswehrsoldat_innen und noch mehr Helfende mit Westen weisen die immer größer werdende Menge an Menschen ein und verteilen Brot und Wasser. Alles ist ein großes Durcheinander, was wir erst einmal verarbeiten müssen. Wir beobachten weiter. [...] Nach kurzer Zeit wollen wir es dabei nicht belassen. In der Ecke stehen und blöd gucken wenn alles drunter und drüber geht, kommt mir auf Dauer nicht so passend vor. (Auszug Feldnotizen vom 26. November 2015)
Hierbei kommt die Frage zum Ausdruck, welche Legitimität das Nichtstun in Notsituationen hat. Es stellt sich die Frage: Kann es ein „nur Gucken“ geben und ab wann muss man, aufgrund eigener Moralvorstellungen oder der Angst vor eventueller negativer Zuschreibung von außen, dem Vorwurf der Gafferei, aktiv werden. Man kann das Gefühl zuspitzen auf die Frage: Könnte ein “nur Gucken“ im schlimmsten Fall zur „unterlassenen Hilfeleistung“ werden?
Dieser macht man sich laut Strafgesetzbuch unter anderem dadurch schuldig, wenn man bei Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies „erforderlich und ihm [dem Beobachter] den Umständen nach zuzumuten [...] ist“ (§323c StGB). Es besteht eine „allgemeine Handlungspflicht“ (Satzger et al., 2013, §13, Rn. 2.). Hintergrund des im Strafgesetzbuch geregelten Terms „unterlassene Hilfeleistung“ ist in erster Linie die Wahrung der gesellschaftlichen Solidarität in Notfällen. Erwarten es die Umstände und ist es für den Einzelnen zumutbar, dann besteht für Jede_n die Pflicht anderen Menschen in ihrer Lage zu helfen, wenn dies erforderlich ist (vgl. Neubauer, 2016).
Das Unwohlsein auf Grund der Frage nach der Legitimität des Guckens wird abgeschwächt, als wir aktiv werden und zu Helfen beginnen. Es ist jedoch nicht das aktiv werden alleine, sondern die Resonanz des Feldes, die zu weniger Unwohlsein führt.
Wir fragen eine Helferin, ob wir nicht auch mithelfen können. Diese stimmt sofort zu und weist uns ins Klamottenlager ein. [...] Auch die nächste Begegnung will nicht wirklich in das Ausnahmeszenario der Notaufnahmestelle passen. Ein mittelalter Mann dreht und wendet sich in dem Mantel, den ich ihm rausgesucht hatte und der ausnahmsweise sogar ziemlich chic ist und ihm gut passt. Er prüft Schultern und Armlänge wie beim Schneider und wirft einen fragenden Blick zu seiner uralten Mutter, die den Mantel abnickt. Der Mann strahlt mich daraufhin an und schüttelt mir überschwänglich die Hand. So eine kleine Geste der Dankbarkeit wirkt ungemein stark. (Auszug Feldnotizen vom 26. November 2015)
Die uns entgegen gebrachte Dankbarkeit und das Gefühl, jemandem geholfen zu haben, tut gut. Dies hilft uns dabei, unser Unwohlsein auf Grund der vorangegangenen moralischen Zweifel etwas mehr abzulegen. Wir gehen mit einem positiven Gefühl über unser Aktivwerden nach Hause.
Ist auch mein Hilfeleisten moralisch zweifelhaft?
Erst im Nachhinein durch die Diskussion des Erlebten entstand ein weiterer, vierter Konflikt, den wir hier der Vollständigkeit halber anbringen möchten. Hierbei geht es um die Frage, inwiefern die Motivation des Aktivwerdens und Mithelfens moralisch zu bewerten ist. Ist es ein Unterschied, ob man hilft, um etwas zu tun oder weil man das Nichtstun nicht mehr aushält? Kann helfen selbstlos sein oder ist das Helfen nur Selbstzweck, um das Gewissen rein zu waschen?
Einfach mal gucken - Darf man das?
Foto: Konstantin Krex, November 2015, Berlin-Schönfeld
Aus den vorgestellten inneren Monologen kristallisierten sich zwei Kernfragen heraus, eine moralische und eine methodische. Methodisch lautet die Frage, was ist eigentlich der Unterschied zwischen „Gucken“ und „Beobachten“? Moralisch stellt sich die Frage, warum ist das „Gucken” so zweifelhaft? Warum entsteht beim Gucken das Gefühl unautorisiert zu sein und ein moralisches Dilemma, das sich auf die Angst zuspitzt, der „unterlassenen Hilfeleistung“ beschuldigt werden zu können?
Beobachtung als soziale Interaktion
„The problem of learning to be a field observer is like the problem of learning to live in society" (Hughes, 1960, S. xiii). Dieses Zitat aus der Einleitung zu Buford H. Junkers Buch „Field Work - An Introduction to the Social Sciences“ macht deutlich, dass Feldforschung nicht nur die Beobachtung von Sozialem, sondern selbst Teil des Sozialen ist. Zu lernen, in der Gesellschaft zu leben, bedeutet, ihre Regeln kennen zu lernen. Das gleiche gilt für das Beobachten: Beobachtende sind Teil der Interaktion, die sie beobachten und nicht von ihr losgelöst oder außenstehend.
Hier zeigt sich, dass verschiedene Fragen auch daraus entstehen, dass sich Forschende in einer Art Doppelrolle bewegen. Forschende sind erstens Bürger_innen dieser Gesellschaft und somit Teil des moralischen Wertesystems der Gesellschaft. Zweitens bedeutet Forscher_in zu sein, ein Forschungsinteresse zu verfolgen. Als Bürger_in steht die moralische Frage im Vordergrund: Darf ich nur gucken? Darf ich das oder bin ich dann Schaulustige_r? Als Forschende_r hingegen wird zusätzlich die methodische Frage relevant: Ist „Gucken“ ethnographisch sinnvoll? Das Unwohlsein über unsere Anwesenheit erscheint trivial, ruft man sich den Kontext des Feldes wieder in den Sinn. Als Akademiker_innen befinden wir uns in einer privilegierten Lage. Unser moralisierendes Gedankenspiel wirkt deplatziert im Kontrast zu der Situation der Geflohenen und deren Bangen um eine Aufenthaltserlaubnis außerhalb eines Kriegsgebietes. Es erscheint uns an dieser Stelle wichtig, den Unterschied in der schicksalsbestimmenden Tragweite einer Frage nach der Legalität als Mensch und der nach unserer Legitimität als Forschende zu betonen.
Zurück zu unserer Frage nach dem Verhältnis zwischen den Rollen Forscher_in und Mensch. Wie Hughes (1960) schreibt, ist das nicht klar voneinander zu trennen. Nicht jeder Mensch ist Forscher_in aber jede_r Forscher_in ist Mensch und muss sich deshalb beide Fragen zwingend stellen. Wissenschaftlichkeit fordert Methode und vor allem auch deren Reflexion.
Ist das „einfach mal Gucken“ überhaupt eine Methode?
Durch die methodische Nähe unseres Guckens zur nicht-teilnehmenden Beobachtung, stellt sich die Frage nach dessen Abgrenzung und Alleinstellungsmerkmal. Wir können und möchten eine Abgrenzung jedoch nicht vornehmen, sondern anstatt dessen vielmehr den fließenden Übergang vom spontanen Beobachten (Gucken) und Herumhängen (Schwanhäußer 2015) über das nicht-teilnehmende Beobachten (Welz 1991) bis hin zum teilnehmenden Beobachten (Hughes 1960; Lindner 1981), betonen. Wenn man, wie Hughes und Lindner es vorschlagen, teilnehmende Beobachtung (lediglich) als soziale Interaktion sieht, so werden diese strengen Abgrenzungen obsolet. Das heißt auch, dass „einfach mal gucken“ zwar keine ethnografische Methode ist, sie ist aber auch nicht gänzlich etwas anderes als das ethnografische Beobachten. Wir möchten außerdem deutlich machen, dass wir zu Teilnehmer_innen geworden sind, das „einfach mal gucken“ also zur teilnehmenden Beobachtung geführt hat. Hierin liegt die Offenheit des Guckens, die oben beschrieben wurde.

Ist das „einfach mal Gucken“ moralisch legitim?
In der Zeitung Die Zeit vom 12. November 2015 stellt Christine Lemke-Matwey in ihrem Feuilleton-Artikel “Plötzlich klopft das Schicksal an“, über die Bedeutung des „Ausnahmezustandes“ (ebd.) durch die aktuellen Fluchtbewegungen und dessen Wirkung auf Theater und Oper, die Frage: „Welcher Deutsche hat noch nie einen Flüchtling zu sehen bekommen, von Angesicht zu Angesicht?“ (Lemke-Matwey 2015).
Sie formuliert damit nicht nur die Frage nach der Sichtbarkeit von Geflüchteten in unserer Gesellschaft, sondern auch eine Kritik am Weg- sehen. Das Wegsehen steht hierbei metaphorisch dafür, sich vor der Sache zu verschließen, sich nicht mit ihr zu Beschäftigen und dies zu tun, wird als moralisch verwerflich dargestellt. Im Satz darauf beantwortet sie ihre Frage selbst mit den Worten: „Sicher viele, sehr viele. Außer im Fernsehen natürlich.“ (ebd.). Die vielleicht dezent durchschimmernde Kritik am Fernsehen einmal beiseitegelassen, könnte man diese Ausführung nicht nur als Kritik am Wegsehen, sondern auch als Appell zum Hinsehen und schlussendlich damit ja auch zum Hingehen verstehen. Somit verbürge sich dahinter ein Appell an die deutsche Gesellschaft, sich in der Pflicht zu sehen, sich mit Geflüchteten nicht nur medial, sondern auch persönlich auseinanderzusetzen. Sich mit Flüchtlingen zu treffen, sich sie und ihre Unterbringungen anzuschauen. Dies ist eine Forderung nicht nur zum Hingucken, sondern auch zum Hingehen vielleicht, so würden wir es zumindest formulieren, in der Hoffnung, dass Begegnung zu mehr Verständnis führt. Kurzum sie formuliert das Hingehen und Hingucken als eine gesellschaftliche Pflicht.
Es liegt also nahe, anzunehmen, dass es im gesellschaftlichen Diskurs zum Thema Flucht derzeit die Idee von einer gewissen Bürger_innenpflicht zum Hinsehen gibt. Diesen Gedanken verdeutlicht auch das Titelfoto dieses Aufsatzes. Zu sehen ist ein Plakat, welches auf ein Berliner Theater und Performancekollektiv aufmerksam macht. Das Plakat zeigt die Aufschrift, „Ich habe keinen Kontakt zu Flüchtlingen aufgenommen“ und weiter unten „Auch Schuldgefühle? Teile dein Geständnis unter www.turbopascal.info“ (Oberhaußer o. J.). Es scheint also das Gefühl zu geben, den Kontakt zu Geflüchteten nicht zu suchen, sei etwas moralisch Verwerfliches.
Ganz im umgekehrten Sinne erging es uns jedoch bei unserer Feldforschung. Der Kontakt kam uns nicht wie eine Pflicht, sondern vielmehr wie etwas vor, zu dem wir unbefugt waren. Warum aber kam uns das „einfach mal Gucken“ so unmoralisch vor? Eine Antwort darauf fanden wir in dem Bild des „vulnerable observer“ von Ruth Behar, die in ihrem Buch „The Vulnerable Observer – Anthropology That Breakes Your Heart“ eingangs die Geschichte eines Fotografen erzählt, der Zeuge einer tragischen Naturkatastrophe wird. Der Fotograf beobachtet, wie eine Frau sterbend im Schlamm liegt. Erst steht er nur untätig neben dem Unglück und beobachtet, doch nach einer Weile hält er es nicht mehr aus und muss sich zu ihr knien, um ihr wenigstens beizustehen. Diese Anekdote bietet eine gewisse Analogie zu unserer Felderfahrung. Denn auch in unserem Fall entsteht aus der Tatenlosigkeit ein innerer Konflikt, welcher erst durch das Helfen überwunden werden kann. Unsere Absicht „einfach mal gucken“ zu gehen hat uns zu eben jenem „vulnerable observer“ werden lassen, dessen inneren Konflikt Behar treffend mit den Worten beschreibt:
” do you, the observer, stay behind the lense of the camera, switch on the tape recorder, keep pen in hand? Are there limits – of respect, piety, pathos – that should not be crossed, even to leave a record? But if you can’t stop the horror, shouldn’t you at least document it?“ (Behar 1996, S. 2)
Wer hingeht, um zu beobachten (anstatt zu Hause zu bleiben), macht sich verletzlich (siehe oben). Im „vulnerable werden“ liegt die Produktivität des „Guckens“.
Foto: Konstantin Krex, November 2015, Berlin-Schönefeld

Fazit

Wir plädieren dafür, das „einfach mal Gucken“ nicht kategorisch von der teilnehmenden Beobachtung zu trennen. Wir plädieren auch dafür, sich verletzlich zu machen. Das heißt, sich auch als Ethnograph_in unübersichtlichen, unkontrollierbaren und bedrohlichen Situationen auszusetzen. „Einfach mal gucken“ bedeutet, nicht festgelegt ins Feld zu gehen, sich treiben zu lassen und gegebenenfalls offensiv mit der eigenen Unsicherheit umzugehen. Damit stellt sich interessanterweise die Frage der Legitimität des Guckens an das Feld selbst und so werden neue Rückschlüsse möglich.

Aus dieser Felderfahrung hat sich gezeigt, dass das „einfach mal gucken“ möglich ist, wenn auch unter einer gewissen inneren Zerrissenheit und Moralzweifeln. Viel schwerer fällt ein Urteil über die Legitimität des „nur Guckens“ und ob das Gucken nur durch Aktivwerden und Helfen legitim wird. Was wir sagen können ist, dass das sich Treibenlassen zu interessanten Ereignissen führte und darüber hinaus zuletzt sogar zu einer konkreten Situation, in der wir helfen konnten.
Wenig später kommt derselbe Mann [der mir vorher für den Mantel gedankt hatte] an anderer Stelle auf mich zu, leiht sich mein Handy aus und ruft seinen Bruder in Schweden an, um ihm zu sagen, dass er in Berlin ist. [...] Ein Soldat mit dem Aufnäher „Logistikbataillon“ auf der Schulter hat die Situation mitbekommen und wird etwas ungeduldig. Er gibt dem Mann mit der Geste, bei der man bei geschlossener Hand mit dem Daumen mehrmals über den ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger streicht, zu verstehen, dass er sich etwas beeilen soll. Nachdem dieser zu Ende telefoniert hat, sich wieder überschwänglich bedankt und im Tumult verschwunden ist, sagt der Soldat mehr zu sich selbst als zu mir: „Schweden? Ach, kost ja eigentlich auch gar nicht mehr so viel wie früher“, und verschwindet selbst auch wieder. (Auszug Feldnotizen vom 26. November 2015)

Literatur

Behar, R. (1996): The Vulnerable Observer - Anthropology That Breaks Your Heart, Boston.
Hughes, E. C. (1960): Introduction: The Place of Field Work in Social Science, in B. H. Junker (Hrsg.), Fieldwork - An Introduction to the Social Sciences, University of Chicago, London, S. iii–xiii.
Lemke-Matwey, C. (2015): Plötzlich klopft das Schicksal an, Die Zeit 46: 57–58.
Lindner, R. (1981): Die Angst des Forschers vor dem Feld - Überlegungen zur teilnehmenden Beobachtung als Interaktionsprozess, Zeitschrift für Volkskunde, Jg. 77, H 1: 51-66.
Lofgren, O. (2010): Urban atmospheres - An ethnography of railway stations, in B. Binder, M. Ege, A. Schwanhäußer and J. Wietschorke (Hrsg.), Orte - Situationen - Atmosphären. Kulturanalytische Skizzen, Frankfurt a. M.
Neubauer, S. (2016): Der aktuelle Bußgeldkatalog 2016.
URL: http://www.bussgeld-info.de/unterlassene-hilfeleistung/, Abruf am: 2016-03-21.
Oberhäußer, F. (o. J.): turbo pascal.
URL: http://www.turbopascal.info/, Abruf am: 2016-03-19.
Satzger, H., Schluckebier, W., Widmaier, G. (Hrsg.) (2013): StGB Strafgesetzbuch. Kommentar., Köln.
Schwanhäußer, A. (2015): Herumhängen. Stadtforschung aus der Subkultur., Zeitschrift für Volkskunde 111: 1–18.
Welz, G. (1991): Street Life - Alltag in einem New Yorker Slum, Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie, Frankfurt a. M.


Der Beitrag entstand im Rahmen des Master-Seminars "Ethnografische Methoden der Stadtforschung" bei Anja Schwanhäußer im Wintersemester 2015/16 am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Lou Klappenbach, Fabian Bovens (2016): Einfach mal gucken - darf man das? In: Gökce Yurdakul, Regina Römhild, Anja Schwanhäußer, Birgit zur Nieden, Aleksandra Lakic, Serhat Karakayali (Hg.): E-Book Project of Humboldt-University Students: Witnessing the Transition: Refugees, Asylum-Seekers and Migrants in Transnational Perspective. Preview (Weblog), https://www.blogger.com/blogger.g?blogID=863130166696833325#editor/target=post;postID=3697950972162993466;onPublishedMenu=allposts;onClosedMenu=allposts;postNum=0;src=link

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